Maedchenauge
schaute sie Lily zum ersten Mal frontal an, ihre Augen wirkten leicht zusammengekniffen. »Halten Sie es für möglich, Frau Doktor, dass der schwarzlederne Motorradfahrer ein Zufall war, und …«
»Ganz im Gegenteil. Das war kein Zufall. Davon bin ich überzeugt.«
Gedankenverloren schwieg sie einen Moment, bevor sie fortfuhr. »Jedenfalls wissen wir aus der Kriminalpsychologie, dass Serientäter dazu neigen können, ihr Verhalten zu variieren. Und dass die Abstände zwischen den Taten unter Umständen kürzer werden. Die Befriedigung hält nicht mehr so lange an. Dazu sollte man noch einen Experten konsultieren.«
»Genau«, sagte Belonoz.
»Falls es sich so verhält, ist das kein gutes Zeichen. Es bedeutet, dass uns die Zeit davonläuft, wenn wir neue Opfer verhindern wollen.«
»Sollte Emberger der Mörder gewesen sein, sieht die Sache anders aus.«
»Nein, Herr Major. Auch dann ist zu befürchten, dass es weitere Opfer geben wird.«
Belonoz sah die Staatsanwältin interessiert an. »Wie soll ich das verstehen?«
»Dass wir jetzt …«, begann Lily, wurde jedoch vom Läuten ihres Handys unterbrochen. Sie sah auf das Display und sprach ins Gerät: »Ich rufe Sie zurück, die Besprechung mit Major Belonoz ist gleich zu Ende.«
Sie stand auf und ging eilig in Richtung Tür. »Das war Lenz. Was wollte ich sagen … Ich schlage vor, wir alle treffen uns heute Nachmittag um siebzehn Uhr hier zu einer weiteren Besprechung. Bis dahin bleiben wir in Verbindung, Herr Major. Viel Glück!«
Lily verließ den Raum. Belonoz hob seine Augenbrauen.
»Ich habe sie mir anders vorgestellt«, sagte Marlene Metka.
»Sie ist nicht, wie sie aussieht«, murmelte Belonoz. »Das täuscht. Sie ist nicht zart und zerbrechlich.«
»Was bitte hat sie damit gemeint, dass es weitere Opfer geben könnte, auch wenn Emberger der Mörder ist?«, fragte Kovacs.
»Sie hat nur ausgedrückt, dass … Wir machen einfach weiter. Egal was Frau Horn gerade denkt oder nicht.«
Belonoz teilte das Team auf. Steffek und Bardel sollten sich um den Fall Karner kümmern, Kovacs und Metka würden weiter die Ermittlungen zum Mord an Selma Jordis koordinieren.
»Ich erwarte, dass mit Hochdruck gearbeitet wird und euch nicht der geringste Fehler unterläuft«, sagte Belonoz, während sich sein Team erhob. »Frau Horn macht den Eindruck, dass sie uns genau auf die Finger schauen möchte. Sie ist nicht unsere Freundin. Sie ist und bleibt eine Staatsanwältin.«
*
Die Mannschaft kam gegen halb zwölf Uhr mittags. Auf Verständnis traf sie nicht.
»Wie können Sie uns ausgerechnet jetzt belästigen?«, fragte die Mutter von Sebastian Emberger.
Ihr Gesicht war blass, dunkle Ringe unter den Augen, das Haar zerzaust. Ihre Stimmung schwankte zwischen Aggression und Depression. Gewiss war sie verzweifelt. Doch man merkte immer noch, dass sie es gewohnt war, das Kommando zu führen.
»Ist es so schwer zu verstehen, in was für einem Zustand wir uns befinden?«, schrie Barbara Emberger. »Geht euch jedes Gefühl für das Leid anderer Menschen ab? Was habt ihr nur für einen Beruf!«
Mit gelassenem Interesse hatte Descho zugehört. Keinesfalls würde er sich zu einem unbedachten Wort, zu einem respektlosen Benehmen provozieren lassen. Er musste rücksichtsvoll und zugleich bestimmt auftreten.
»Ganz im Gegenteil, Frau Emberger«, sagte er und ließ seine sanfteste, geradezu verführerische Simme erklingen. »Wir haben volles Verständnis für Ihre Gefühle. Und für die Gefühle der Eltern von Magdalena Karner. Im Moment ist es wichtig, Klarheit zu schaffen. Das wird etwas sehr Beruhigendes sein, für alle Seiten. Dass wir Ihre Ruhe stören müssen, bedauern wir zutiefst.«
Überrascht von diesem Tonfall blickte Barbara Emberger ihn wortlos an.
Er drehte sich zu seinen Leuten um, nickte kurz und trat ins Haus. Das war Deschos erste Begegnung mit der Mutter des Verdächtigen. Als er nach dem Sohn gefahndet hatte, waren die Eltern nicht zu Hause gewesen, bloß die Hausangestellte.
»Es wird nicht lange dauern«, sagte einer der Kriminalbeamten.
»Vermutlich«, erwiderte Descho und war froh darüber.
Er mochte dieses Haus nicht. Hier war alles reine Dekoration. Trotz der vielen Möbel im alpenländischen Stil mitsamt flauschigen Teppichen und gemusterten Tapeten war die Villa so leer wie die Menschen, die hier wohnten. Embergers Zimmer war ein Rückzugsraum gewesen. Die Reduktion auf das Wesentliche in seinem persönlichsten Bereich sprach für sich.
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