Maedchenauge
Dadurch hatte er es geschafft, den Rest des Gebäudes auszuhalten.
Dennoch hoffte Descho, in diesem Zimmer auf Hinweise zu stoßen. Hinweise worauf auch immer. Wenigstens ansatzweise sollte sich das Rätsel um Embergers Tod lösen lassen.
Eine Stunde später hatte der Raum noch immer nichts offenbart. Er war so eigenschaftslos und uninteressant wie zu Beginn der Durchsuchung. Das gesamte Inventar war auf das Genaueste kontrolliert worden. Hohlräume in Möbeln oder sonstige Verstecke hätte man entdeckt.
Descho war tief enttäuscht. Sein Blick fiel auf den grauen Spannteppich. Erstaunlich abgewetzt für ein Haus, das ansonsten auf Hochglanz poliert war.
»Weg damit«, sagte Descho.
Mit größter Sorgfalt machten sich die Beamten an die Entfernung. Doch es ging ohnehin ganz leicht. An einigen kleinen Stellen hatte sich der Teppich bereits gelockert und war nicht wieder angeklebt worden. Nun sah man den blanken Betonboden.
Und ein paar gefaltete Bögen Papier.
Sie mussten durch eine Lücke unter den Teppich geschoben worden sein.
»Aha«, sagte Descho und atmete tief ein.
Er zog sich einen Latexhandschuh an, beugte sich hinunter und nahm den Fund an sich. Es waren drei Seiten, gefüllt mit einer sehr runden und sehr großen Handschrift. Eilig überflog Descho die Zeilen.
Niemand war zu sehen, als die Beamten die Villa verließen. Keine Verabschiedung, nichts. Während der Fahrt in die Salzburger Innenstadt griff Descho zum Handy.
»Unter dem Teppich. Drei vollbeschriebene Seiten. Sobald ich im Büro bin, scanne ich sie und maile sie nach Wien. Anschließend schauen wir nach, was der Laptop hergibt. Kein zweites Handy. Dafür ein paar DVDs und USB-Sticks, und ein externer Datenspeicher.«
Descho schwieg kurz und lauschte.
»Nein, da war gar nichts«, erwiderte er schließlich. »Keine Lederjacke. Auch sonst kein Helm oder irgendetwas, was einem Motorradfahrer gehören könnte. Motorrad hat er keines besessen. Nicht einmal einen Motorradführerschein, Frau Doktor Horn.«
13
Nostalgie.
Das empfand Lily, als sie am offenen Fenster ihres Büros stand. Es war halb zwei Uhr nachmittags, und sie schaute hinunter auf die Landesgerichtsstraße. Ihr Blick schweifte bis zur Kreuzung mit dem Frankhplatz. Junge Leute, allein oder in Gruppen, waren zu sehen. Viele Studenten, manche zielstrebig unterwegs, mit dem Fahrrad oder zu Fuß, andere dahinschlendernd oder völlig konzentriert in ihr Handytelefonat vertieft. In der Nähe lag der Campus der Wiener Universität, nur unwesentlich weiter weg die Medizinische Universität.
Da war das junge Leben, ungezwungen, frei, unschuldig. Das pure Existieren. Getrieben von der Lust, sich Wissen anzueignen, oder dem Druck, Prüfungen zu bestehen. Und über all dem nicht die persönliche Glückserfüllung zu vergessen.
In diesem Augenblick fühlte sich Lily stark hingezogen zu diesem vermeintlich sorgloseren Dasein. Zugleich war ihr bewusst, dass diese Existenz bloß eine auf Zeit war.
Sie vermisste die einstige Unbeschwertheit. Das stärkere Maß an Selbstbestimmtheit und Selbstverantwortung. Die Möglichkeit, eigenen Maßstäben zu genügen.
Es klopfte an der Tür. Der Kopf von Oliver Seiler ragte ins Zimmer.
»Ciao, Lily. Hast du schon zu Mittag gegessen?«
»Keine Zeit. Ich hab dermaßen viel zu tun.«
»Ich verstehe. Aber es gibt jetzt ein großartiges serbisches Restaurant ganz in der Nähe. Alles sehr authentisch und mit viel Knoblauch.«
»Danke, Oliver, das klingt sehr verlockend. Aber völlig unmöglich. Ich muss hier vorankommen. Vielleicht morgen? Das ist aber ein unverbindliches Angebot, also falls nichts dazwischenkommt.«
Er nickte verständnisvoll. »Also vielleicht bis morgen. Du wirst meiner Einladung nicht entgehen. Das ist kein Versprechen, sondern eine Drohung …«
»Gerne«, sagte Lily lächelnd.
Seiler lächelte zurück und schloss die Tür.
Lily war wieder allein mit dem Fall. Die gesamten Unterlagen hatte sie auf dem Schreibtisch ausgebreitet. Sie benötigte das haptische Erleben eines Falles. Alles am Bildschirm abzurufen, reichte ihr nicht. Sie wollte das Papier betasten und mit ihm hantieren.
Die Zeit zerrann wie Butter in der Sonne. Der Oberstaatsanwalt hatte sich schon am Vormittag nach dem Fortgang der Ermittlungen erkundigt. Die Anfragen der Medien trafen im Minutentakt ein, Lily hatte sie an die Pressesprecherin der Staatsanwaltschaft delegiert.
Deshalb musste endlich mit Belonoz über eine Pressekonferenz geredet werden. Um den
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