Maedchenauge
Journalisten entgegenzukommen, sie vielleicht von überbordenden Spekulationen abzuhalten. Die Medienleute sehnten sich nach einem Gesicht, das sie mit den Ermittlungen verbinden konnten. Also würde Lily ihres hinhalten. Nur das hätte Glaubwürdigkeit. Eine beliebige Pressesprecherin war bloß eine Übergangslösung.
Sie ging zu ihrem Schreibtisch. Der erste Mord war der an Sabine Foltinek gewesen. In einer Samstagnacht vor vier Wochen. Lily begutachte die Fotos der geschundenen Leiche, danch ging sie die Berichte und Einvernahmen durch. Eine Stunde später hatte sie ein klareres Bild gewonnen.
Foltinek hatte allein in einer Wohnung im dritten Bezirk gewohnt, in der Landstraßer Hauptstraße. Der Balkon, auf dem sie gefunden worden war, lag in einem recht großen Innenhof. Das Opfer war in einem Gartenstuhl positioniert worden, daneben hatte sich ein kleines Tischchen mit zwei leeren Weinflaschen und drei Gläsern befunden. Über Foltineks Kopf hatte der Täter eine Zeitung ausgebreitet. Was die späte Reaktion der Nachbarn verursacht hatte. Da ruhe sich nur jemand von einer durchzechten Nacht aus, hatten sie vermutet.
Auch sonst war es kein Wunder, dass der Tathergang unbeobachtet geblieben war. Jener Samstagabend im Mai war schon sehr warm gewesen. Niemand hatte sich um das Geschehen im dunklen Innenhof gekümmert. Die meisten Hausbewohner waren ausgegangen, hatten die letzte Ausgabe einer beliebten Fernsehshow gesehen, zu Abend gegessen oder waren bereits schlafen gegangen. Erst Stunden später, im Tageslicht, war jemandem die seltsame, reglose Person auf dem Balkon aufgefallen. Danach die mit dunkelroten Flecken übersäte Bluse. Und die Fliegen.
Ob sich fremde Personen im Haus aufgehalten hatten, vermochte niemand zu sagen. Der Mörder war gekommen, hatte sein Werk vollbracht und war wieder in die Nacht verschwunden. Ungeklärt war, wie er in das Haus gelangt sein konnte. Ebenso, warum das Opfer die Tür geöffnet hatte. Dort war der erste Angriff des Täters erfolgt. Als Sabine Foltinek tot oder zumindest schwerverletzt gewesen war, war sie von ihrem Mörder auf den Balkon transportiert worden.
Kaum Aufschlüsse bot die Obduktion. Die letzte Mahlzeit war nachgewiesen worden. Das Personal eines nahe gelegenen Restaurants hatte bestätigt, dass sie dort allein Sushi bestellt und abgeholt hatte. Später hatte sie reichlich Rotwein der Sorte Sankt Laurent getrunken. Was die Erklärung dafür sein mochte, dass sie an der Wohnungstür angesichts des Täters falsch reagiert hatte.
Bei den Ermittlungen waren Seiler und Belonoz nach dem üblichen Schema vorgegangen. Alle denkbaren Varianten waren untersucht worden, vom engsten Freundeskreis über Verwandte und entfernte Bekannte bis hin zu den Hausbewohnern. Nichts war dabei herausgekommen.
Und eine Schlüsselperson war ausgefallen. Jemand, der in vergleichbaren Situationen sofort als idealer Verdächtiger betrachtet worden wäre.
Gewiss war Sabine Foltinek in Wiener Clubs und Diskotheken gerne und oft zu Gast gewesen.
Was Beziehungen betraf, war sie dagegen vergleichsweise zurückhaltend gewesen. Sie hatte einen festen Freund gehabt. Felix Bawart, einen zwölf Jahre älteren Immobilienhändler, den sie nach ihrer Übersiedlung von Klagenfurt nach Wien kennengelernt hatte. Und sie hatte es bei dieser Beziehung belassen. Andere Liebhaber hatten nicht ermittelt werden können. Allzu aufdringliche Verehrer musste Foltinek auf Distanz gehalten haben. Ungeachtet des vielen Feierns war sie ein bodenständiger Mensch gewesen. Und zurückhaltend, wie enttäuschte Verehrer und weitere Zeugen eindringlich bestätigt hatten.
Also Felix Bawart. Er hätte für die Ermittler einen Ansatzpunkt darstellen können. Theoretisch.
Wenn Bawart nicht begraben worden wäre. Vier Tage vor dem Mord an seiner Freundin. Er hatte sich umgebracht. Erschossen, ein eindeutiger Selbstmord.
Die Möglichkeit einer Beziehungstat schien in weite Ferne gerückt.
Aber ein sexueller Hintergrund ist damit nicht ausgeschlossen, dachte Lily.
Jedenfalls aus Sicht eines Mörders, der sich am Leiden des Opfers erregte. Wenngleich die Tatortgruppe am Leichnam keine Spermaspuren festgestellt hatte.
Damals hatten sich die Medien nicht sonderlich für die Tat interessiert. Die Berichte, die Lily im Netz fand, waren unergiebig und schlampig formuliert. Da gab es eben eine Kärntner Studentin, die in ihrer Wiener Wohnung erstochen worden war. Wenig aufregend für eine Stadt mit zwei Millionen
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