Maedchenauge
jemand im vorigen Semester die Prüfung nicht geschafft und will sich an mir rächen … Ich glaube, ich werde die geplanten Fragen noch einmal überarbeiten … Aber gut, wenn wir schon bei der Gelegenheit sind, sprechen wir wieder einmal über die Praxis. Wir sind hier unter uns, ich kann mich also ein wenig auslassen … Also da werden zuerst zwei junge Damen erstochen, und dann gibt es eine dritte, die aber eigentlich erstickt. Was soll man dazu sagen? Und bei allen war eine Inzision betreffend den Bulbus oculi feststellbar. Volkstümlich gesprochen, wurden ihnen die Augen ausgestochen. Das jedoch, liebe Freunde, ist nicht das Ende der Geschichte. Nun ist mir noch eine vierte weibliche Person jüngeren Alters auf den Tisch gekommen. Die wurde wieder erstochen, aber die Augen sind intakt geblieben. Was, liebe Kolleginnen und Kollegen, sagen Sie dazu? Falls Ihnen ad hoc nichts einfällt, darf ich Sie trösten. Mir ist auch nichts eingefallen, deshalb wird das keine Prüfungsfrage sein.«
Erneut gab es Gelächter.
»Sie sehen also, ich habe genug zu tun. Machen Sie es wie ich, gehen Sie an die Arbeit. Ich wünsche Ihnen viel Glück und einen schönen Sommer.«
Dalik deutete eine leichte Verneigung an und trat vom Rednerpult zurück. Die Studenten klopften begeistert auf die Bänke. Der Lärmpegel schwoll augenblicklich an, Dalik huschte durch einen Seitenausgang davon.
Die Studenten räumten ihre Unterlagen zusammen und beeilten sich, endlich ins Freie zu gelangen. Im hinteren Teil des Saals räumte eine junge Frau ihren Platz. Mit der Masse schwamm sie nach draußen und suchte sich einen Ort, an dem sie ungestört war. Aus der großen Umhängetasche holte sie ein iPhone und freute sich. Obwohl sie im Vorfeld befürchtet hatte, neunzig Minuten peinigender Langeweile durchleiden zu müssen. Sie interessierte sich schließlich nicht für Gerichtsmedizin. Nicht einmal für Medizin überhaupt. Aus der Sicht ihres zwanzigjährigen Lebens war das bloß etwas für Fitnessapostel und öde alte Leute, die permanent über Krankheiten sprachen.
Es waren bestens investierte neunzig Minuten gewesen. Der Hinweis, wonach Dalik in seinen Vorlesungen gerne Bezug auf aktuelle Fälle nahm, hatte sich als zutreffend entpuppt. Gaby Koch würde mit der ehrgeizigen Praktikantin der Chronik-Redaktion von Clip24 sicher zufrieden sein.
*
Die Blicke waren munterer als zuvor, die Haltung am Tisch des Besprechungsraums war aufrechter, die Stimmen klangen weicher. Für alle war es die erste Pause seit vielen Stunden gewesen. Sie hatte ihnen gutgetan.
Aus einem nahe gelegenen Delikatessengeschäft waren für Lily zwei Käsesandwiches herbeigeholt worden. Um achtzehn Uhr versammelte man sich wieder im Besprechungsraum. Die Atmosphäre war ungleich entspannter als noch zwanzig Minuten zuvor. Lily reichte allen jeweils sechs Seiten eines gescannten Dokuments.
»Sicher haben Sie von der Hausdurchsuchung in Salzburg gehört«, sagte Lily und erntete lauernde Blicke. »Es war heikel. Die Eltern haben den einzigen Sohn verloren. Kurz darauf schneit die Polizei ins Haus und durchwühlt alles. Mit einer Beschwerde habe ich also gerechnet. Zu Mittag hat mich der Oberstaatsanwalt angerufen.«
»Was hat er denn gewollt, der alte Lenz?«, fragte Belonoz.
»Ich soll weiter effizient vorgehen, aber sensibel sein.«
Belonoz leistete sich ein halbes Grinsen. »Ein klassischer Lenz. Effizient, aber sensibel . Damit er nur ja nirgendwo aneckt, dieser Aal.«
Lily verkniff sich ein Lächeln und überging die Bemerkung. »Jedenfalls ist in Embergers Zimmer etwas Interessantes gefunden worden. Drei nie abgeschickte Briefe an Magdalena Karner. Auf jeweils einem doppelseitig beschriebenen Blatt.«
»Wo waren die Briefe?«, fragte Nika Bardel.
»Unter dem Teppich.«
Aus den Augenwinkeln sah Lily, wie der neben ihr sitzende Belonoz der Brusttasche seines Hemds ein Etui entnahm. Er holte eine kleine, zart umrandete Brille heraus und setzte sie auf.
Lily konnte nicht anders und musste den Major direkt anschauen. Das filigrane Gestell verlieh seinem Gesicht etwas unerwartet Intellektuelles.
Rasch sprach sie weiter. »Die Briefentwürfe sind datiert. Sie stammen aus den zwei Wochen vor dem Tod von Magdalena Karner. Ich wäre auf Ihre Kommentare gespannt.«
Zehn Minuten lang herrschte Schweigen.
Als Erster hatte Belonoz die Lektüre beendet. Er warf Lily einen Blick über den Rand seiner Brille hinweg zu.
Schließlich waren auch die anderen so weit.
»Was
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