Maedchenauge
kontrollieren. Aber da war kein Handy. In Gedanken sah sie es auf ihrem Schreibtisch im Grauen Haus liegen.
Eine Viertelstunde später betrat sie das Graue Haus. Sie ging zum Aufzug, als ihr der Portier nachrief: »Frau Doktor Horn, für Sie ist was abgegeben worden.«
Lily betrachtete das Päckchen. Etwas Hartes, Quadratisches musste darin sein.
»Vielleicht Schokolade!«, witzelte der Portier und setzte sich wieder vor seinen Fernsehapparat, um ein Fußballspiel weiterzuverfolgen.
Sie riss das Päckchen auf und entnahm ihm eine Plastikhülle, die eine DVD umschloss. Sonst war da nichts. Kein begleitendes Schreiben, kein Absender.
In ihrem Büro fand Lily das Handy auf ihrem Schreibtisch. Sie musste es dort vergessen haben, als sie ihre Tasche eingeräumt hatte. Es hatte ein paar Anrufe gegeben, erstaunlicherweise nichts Wesentliches. Nicht einmal Lenz hatte sich gemeldet.
An sich empfand Lily wenig Lust, noch länger hier im Büro zu bleiben. Sie sehnte sich nach Hause. Nach Geborgenheit.
Doch die verdammte Neugier siegte. Lily warf den Computer an und legte die DVD ein.
Zuerst sah sie undeutliche Bilder auf dem Bildschirm. Eine nächtliche Szenerie, ein erleuchtetes Fenster. Eine Gestalt, die sich bewegte. Zunächst angezogen, später nackt. Sie schien in einem Zimmer herumzutanzen. Ziemlich lange und immer wieder. Die Aufnahmen mussten bei verschiedenen Gelegenheiten entstanden sein, die Lichtverhältnisse stimmten nicht überein.
Dann wieder Nacht, wieder ein erleuchtetes Fenster, wieder eine Gestalt. Aber eine andere. Sie zeichnete sich schwarz vor dem Hintergrund des hell erleuchteten Zimmers ab. Als sich die Gestalt bewegte, glänzte sie matt. Man erkannte das schwarze Leder.
Lily erhob sich aus ihrem Sessel. Sie griff in ihre Tasche, holte das Handy hervor und rief Major Belonoz an. Um ihm zu sagen, dass eine DVD aufgetaucht war, die den Mörder von Magdalena Karner zeigte. Aber auch Magdalena Karner selbst. In ihrer Wohnung tanzend, völlig unbekleidet.
15
Wieder und wieder sahen sie sich die Bilder an. Eine Stunde verbrachten Lily und der Major mit der DVD, die rund zwanzig Minuten Material in bester digitaler Qualität enthielt.
Magdalena Karner tanzte durch ihre Wohnung, die Lily sofort erkannt hatte. Vermutlich bewegte sie sich zu Musik. Auf der DVD selbst waren bloß die Geräusche einer vielbefahrenen nächtlichen Straße zu hören.
Sie tanzte nicht selbstversunken, nachlässig oder quasi nebenbei. Nein, da war etwas anderes, etwas Gewolltes, das vor allem auffiel, wenn Magdalena Karner nackt war. Und abgesehen von einer kurzen Sequenz zu Beginn war sie das immer. Sie bewegte ihren Körper, als befände sie sich auf einer Bühne. Vor einem Publikum.
Ihren Körper bot sie offenherzig dar. Oft berührte sie die Spitzen der Brüste. Und regelmäßig glitten ihre Hände hinunter zu ihrer Scham.
»Sie haben recht«, sagte Belonoz leise zu Lily. »Das wirkt so, als würde sie für jemanden tanzen, der zuschaut. Als wäre sie nicht allein. Oder als wäre ihr bewusst, dass man sie beobachtet. Nur … wer sollte das sein, für den sie hier tanzt?«
Lily stoppte die Wiedergabe. »Es gibt drei Möglichkeiten. Sie tanzt für jemanden, der sich in ihrer Wohnung befindet, aber außerhalb des Bildausschnitts. Oder sie tut es für die Person, die das gefilmt hat, was wir sehen. Und dann könnte es eine zweite Kamera in ihrer Wohnung gegeben haben. Etwa die Kamera in ihrem Laptop. Oder eine Webcam.«
»Sowas haben wir dort nicht gefunden.«
»Was diese Möglichkeit nicht ausschließt. Ich fürchte, Frau Bardel oder Frau Metka müssen im Internet recherchieren, ob sie ein Webcamgirl finden, das wie die Tote aussieht. Auf diese Weise könnte sich Magdalena Karner ein Zubrot verdient haben.«
»Trauen Sie ihr das zu?«
Lily schaute Belonoz intensiv an. »Ja, Herr Major, das tue ich. Bis zum Beweis des Gegenteils. So wie ich prinzipiell allen Menschen alles zutraue. Das Beste und das Schlimmste. Ausnahmslos.«
»Sie denken, dass der Charakter von Magdalena Karner zu so etwas passt?«
»Warum nicht? Was haben Sie oder ich bisher über Magdalena Karner erfahren, das dagegen sprechen würde? Dass sie eine brave Medizinstudentin ist? Erstens war sie das nicht jeden Tag vierundzwanzig Stunden lang. Sie hat auch einfach ihr Leben gelebt, mit allen Träumen, Wünschen, Begierden. Sie war keine Frau ohne Unterleib. Und zweitens haben Medizinstudenten oft ein unbefangeneres Verhältnis zum menschlichen
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