Maedchenauge
Vermutung haben Sie nicht?«
»Keine Ahnung. Selma hat keine Details verraten. Zum Schluss hat sie eigentlich sehr gestresst gewirkt. Wie unter Druck. Schade, denn am Beginn war offenbar alles sehr cool. Sie hat ihren Freund gemocht. Und sie hat mir vorgeschwärmt, wie gut er aussieht. Sie war ganz aufgeregt, dass er so schön ist. Immer wieder hat sie mir gesagt: Ulla, er ist so schön, das kannst du dir gar nicht vorstellen, dass mir so ein wunderschöner Mann untergekommen ist. Ich will das nicht beurteilen, weil ich ihn nie kennengelernt habe. Aber ihre früheren Freunde und Verehrer waren alle … viel älter als sie und sehr ordentlich und brav, fast schon langweilig. Besonders gut ausgesehen hat lustigerweise keiner. Selma war zwar selbst attraktiv. Aber ihre Art hat viele Männer abgeschreckt. Sie war sehr auf sich selbst konzentriert und intellektuell.«
»Frau Koppel, was wissen Sie über diesen Freund?«
»Nicht viel. Nur dass er Tom geheißen hat.«
» Tom ? Sind Sie absolut sicher?«, fragte Marlene Metka scharf.
»Das können Sie mir glauben. Der Name ist oft genug gefallen.«
»Frau Koppel, ich würde Ihnen per E-Mail gerne etwas schicken. Eine Zeichnung, die einen jungen Mann zeigt. Falls Sie ihn eventuell doch kennen sollten.«
»Das können Sie machen, schadet nicht. Aber ich habe Tom nie kennengelernt …«
»Ich maile Ihnen dazu noch eine zweite Zeichnung. Sie zeigt eine junge Frau. Leider wissen wir über sie gar nichts. Abgesehen davon, dass sie möglicherweise Nicole heißt, also falls Sie …«
»Nicole heißt die Schwester von Tom, das hat mir Selma erzählt.«
Metka war kurz verstummt. Binnen weniger Sekunden waren relevante Teile des Puzzles ergänzt worden. Eine Vermutung war bestätigt worden, ein Name war hinzugekommen. Der eines möglichen Verdächtigen.
»Sind Sie ganz sicher, Frau Koppel?«
»Natürlich. Tom und Nicole. Das sind die Namen, die Selma am Telefon zuletzt immer wieder erwähnt hat. Bruder und Schwester. Möchten Sie sonst noch etwas von mir wissen? Ich meine … unbedingt jetzt gleich? Ich müsste mich langsam zur Uni aufmachen. Das klingt jetzt herzlos, nämlich wegen Selma … weil sie doch tot ist … und ich bin natürlich wahnsinnig traurig … aber was soll man tun? Das Leben geht weiter. Das verstehen Sie doch, oder?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Marlene Metka und wurde zornig.
*
Durch die geschlossene Tür hörte man den Lärm der wartenden Meute.
»Haben Sie sich überlegt, was Sie den Journalisten erzählen werden?«, fragte Belonoz.
»So ungefähr«, sagte Lily vage. »Und Sie?«
»Keine Spur.«
»Ich werde das regeln.«
»Wie viele Pressekonferenzen haben Sie schon gegeben?«
»Das ist meine zweite.«
»Dann bin ich ja beruhigt.«
Lily und Belonoz befanden sich im Nebenraum eines Gerichtssaals, der gerade nicht für einen Prozess benötigt wurde. Deshalb hatte Lily sich entschieden, die Pressekonferenz dort abzuhalten. In der Mitte, vor den Zuschauerbänken, wo sonst die Zeugen aufzutreten pflegten, hatte sie ein Rednerpult aufstellen lassen.
»Lassen Sie mich machen. Der Rest wird sich ergeben.«
»Die Titelseite von Clip24 hat eingeschlagen wie eine Bombe.«
»Das glaube ich auch«, sagte Lily mit zustimmendem Nicken. »Ich werde Antworten liefern. Vor allem werde ich ein paar Köder auswerfen.«
Als sie fünf Minuten später gemeinsam den Saal betraten, flammten sofort die Blitze der Fotografen auf. Das Geraune der Anwesenden schwoll zu einem gewaltigen Rauschen an. Auf Kameras montierte Scheinwerfer brachten gleißende Helligkeit und zusätzliche Hitze in den Raum. Am Rednerpult waren die Mikrofone der TV-Sender montiert worden. Alle österreichischen Stationen waren vertreten, auch ausländische hatten Berichterstatter entsandt, dazu kamen die Nachrichtenagenturen.
Lily ersuchte die Fotografen, den Raum zwischen Rednerpult und Zuschauern zu räumen. Nun war sie bereit.
»Guten Morgen, meine Damen und Herren«, sagte sie. »Danke für Ihr Kommen. Mein Name ist Lily Horn. Ich leite als Staatsanwältin die Ermittlungen. Neben mir steht Major Belonoz, der Leiter der Mordkommission. Als Erstes werde ich Ihnen der Stand der Dinge erläutern, was die bisherigen Morde sowie unsere Arbeit betrifft. Danach können Sie Ihre Fragen stellen. Diese Pressekonferenz wird eine Stunde dauern und nicht länger. Sie wissen, dass wir noch anderes zu tun haben.«
In knappen Worten bot Lily eine Chronik dessen, was seit Mai vorgefallen war.
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