Maedchenauge
Falls ja, dann war davon nichts mehr zu spüren. Unklar war, ob ihr Mann darauf anspielte oder der Grund für seine innere Wut anderswo zu finden war.
»Du hast dauernd versucht, die beiden wieder zusammenzubringen«, sagte Frau Karner mit verhaltener Ängstlichkeit.
»Sicher. Ich hab’s ihr immer wieder gesagt. Wenn er dir gefällt, der Sebastian, dann nimm ihn dir. Wurscht, was seine Eltern dazu sagen. Schnapp ihn dir, hab ich zu ihr gesagt.«
»Zuletzt haben sie sich einander ja wieder angenähert«, sagte Lily.
»Ja sicher, aber zu spät. Das ist die Tragödie.«
Eine kurze Pause entstand.
Lily bemühte sich um die richtige Frage. Das Gespräch sollte weitergehen, doch der Konflikt zwischen den Elternteilen durfte nicht auf die Spitze getrieben werden. »Hatte Magdalena noch andere Freunde? Ich meine, andere Beziehungen zu Männern?«
Sofort hakte Herr Karner ein. »Der Sebastian war ihr erster Freund. Und ihr letzter … aber die Pfaffen werden sich freuen, dass sie so keusch geblieben ist. Diese Heuchler.«
Lily registrierte, dass kein negatives Wort über Sebastian Emberger gefallen war. Im Gegenteil. Es war die ermordete Tochter, die sich posthum kritisieren lassen musste.
Sie hatte sich Empörung und Wut auf Emberger erwartet. Stattdessen erschien er nun wie der ideale Schwiegersohn. Und nicht wie jemand, der als Serienmörder verdächtigt wurde.
»Herr Descho hat Ihnen, glaube ich, die unangenehme Nachricht in Salzburg überbracht. Vorher hat er sie in einem Ort namens Dienten gesucht, wo Sie angeblich waren. Richtig?«
Der Mann schwieg. Also antwortete die Frau. »Ja, wir waren dort und … dann ist der Herr Descho zu uns gekommen und …«
Sie verstummte.
»Sie beide kommen ja ursprünglich aus Dienten. Mich interessiert, was Sie an dem betreffenden Sonntag dort gemacht haben.«
Margit Karner blickte für einen Moment unschlüssig drein, dann antwortete sie: »Das war … eine Art Ausflug in die alte Heimat …«
Sie sah ihren Mann an.
»Ab und zu will man halt wissen«, sagte er, »was dort los ist und wie es dort zugeht. Was die so alles treiben in dem … Und das können Sie mir glauben, Frau Doktor, die treiben eine ganze Menge. Da gibt’s Tourismus, viele Leute kommen hin … da geht’s zu. Aber nach außen sind sie alle brav katholisch und spielen heile Welt.«
Langsam verödete das Gespräch. Die Energie von Herrn Karner schien verbraucht zu sein, Frau Karner äußerte sich gar nicht mehr.
Nach ein paar Belanglosigkeiten begleitete Lily das Paar zur Tür, um sich zu verabschieden. Als sie ihm die Hand schüttelte, blickte Herr Karner sie plötzlich intensiv an.
»Sie entschuldigen schon … Ich weiß, dass man das eine Staatsanwältin nicht fragt, aber … wenn Sie nicht katholisch sind, sind Sie dann überhaupt religiös?«
Resolut herrschte ihn seine Frau an. »Geh bitte, was bildest du dir denn ein, die Frau Doktor sowas zu fragen?«
»Lassen Sie ihn ruhig«, sagte Lily. »Ich habe viel von Ihnen wissen wollen. Jetzt haben Sie das Recht auf eine Antwort. Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht genau, wie religiös ich bin. Mein Vater hat mich zur Agnostikerin erzogen. Ich glaube manchmal, dass ich Atheistin bin. Und herkunftsmäßig bin ich jüdisch. Sie sehen, das ist alles ein bisschen kompliziert.«
Herr Karner sah sie überrascht an. Eine Art von Respekt lag in seinem Blick. »Aha … So ist das … Das gefällt mir. Das gefällt mir sogar sehr. Dann sollen Sie ein Stern sein, der Licht in diese Angelegenheit bringt und alles aufhellt.«
Für einen kurzen Moment war Lily von der unerwarteten, seltsam poetischen Aussage des Mannes peinlich berührt.
Er ließ nicht locker. »Noch etwas will ich Sie fragen. Es geht jetzt nicht um das, was Sie bisher herausgefunden haben, sondern um das, was Sie glauben. Also, glauben Sie, dass Sebastian Emberger der Mörder unserer Tochter ist? Glauben Sie das?«
Lily atmete tief ein und blickte in die Augen des Mannes, der kein Kind mehr hatte.
»Eines weiß ich ganz sicher«, sagte sie. »Nämlich, dass die Liebe zwischen Ihrer Tochter und Sebastian tragisch war.«
Herbert Karner nickte mehrmals. Dann gingen er und seine Margit den langen, hohen Korridor entlang, zurück in ihre Einsamkeit.
*
Die Eltern von Selma Jordis bildeten das Gegenprogramm zum Ehepaar Karner. Sichtlich wohlsituiert und von vollendeter Selbstbeherrschung betraten sie Lilys Büro pünktlich um fünfzehn Uhr. Sie ließen sich in den beiden Stühlen vor Lilys
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