Maedchengrab
britischen Inseln: Mythen und Magie. Ist das das Buch, für das Sie recherchiert haben?« Sie nickte und sah ihm zu, wie er ein paar Seiten durchblätterte.
»Danke«, sagte er. »Das meine ich ernst. Ich fange gleich heute Abend damit an.«
»Hören Sie, wegen eben … Ich hoffe, Sie haben das nicht als unmoralisches Angebot aufgefasst?«
Er schüttelte erneut den Kopf. »Kein Problem, Nina. Das wäre sehr schmeichelhaft gewesen. Fahren Sie morgen wieder zurück?« Sie machte eine Handbewegung in Richtung des Gebäudes auf der anderen Straßenseite. »Ich muss noch ein bisschen forschen.«
»In der National Library?«
»Ja.«
»Beruflich?«
Sie nickte. »Ich denke, ich werde eine weitere Nacht bleiben …«
Eine Einladung schwang mit – oder zumindest ein Aufhänger –, aber Rebus ignorierte das.
»Sie werden die Erste sein, die ich anrufe – wenn es etwas Neues geben sollte«, sagte er stattdessen.
»Ich setze alle meine Hoffnungen in Sie, John. Ich kann Ihnen nicht genug danken.« Sie bewegte sich auf ihn zu, um ihn auf die Wange zu küssen, doch er wich ihr aus, nahm stattdessen ihre Hand in seine und schüttelte sie. Ihr Händedruck wirkte beinahe leidenschaftlich, ihr ganzer Körper schien zu vibrieren.
»Vielleicht können wir uns das nächste Mal über Mythen und Legenden austauschen«, sagte er.
Sie nickte, wandte den Blick ab und eilte zurück ins Hotel. Rebus stieg in seinen Wagen, drehte den Schlüssel im Zündschloss, blickte sich um und wendete.
Die ganze Heimfahrt über rechnete er mit einem Anruf von ihr, aber er kam nicht.
18
Lochend um Mitternacht.
Darryl Christie schlich sich nach draußen. Er war erst vor einer Stunde nach Hause gekommen.
Seine Mutter bekam nichts mehr mit, seit sie Schlaftabletten verschrieben bekommen hatte. Darryls jüngere Brüder Joseph und Cal teilten sich das Zimmer neben dem von Annette. Darryls Zimmer war der ehemalige Wintergarten unten. Er hatte Verdunkelungsrollos angebracht, als er dort eingezogen war. Mehrmals hatte Frank Hammell ihnen angeboten, ein größeres und schöneres Haus für sie zu suchen, aber Darryls Mutter war in Lochend aufgewachsen wie auch schon ihre Eltern. Alle ihre Freunde wohnten in Fußnähe – und außerdem würden Darryl und Annette sowieso bald ausziehen. Sie wurden erwachsen, wollten ihr eigenes Leben leben.
Darryl hatte jeden Zentimeter im Zimmer seiner Schwester abgesucht und nichts gefunden, das ihr Verschwinden erklären konnte. Er hatte sogar Kontakt zu einigen ihrer engsten Freunde aufgenommen, aber niemand hatte eine Idee. Auch war es Darryl gewesen, der ihrem Vater die Nachricht von Annettes Verschwinden überbracht hatte, nachdem er Gail klargemacht hatte, dass es jemand tun musste.
»Du bist der Mann im Haus, Darryl«, hatte sie gesagt und nach der Wodkaflasche gegriffen.
Besuch hatten sie mehr als genug gehabt. Menschen, die Darryl kaum kannte, wollten ihm ihr Beileid aussprechen, Gail eine Weile Gesellschaft leisten und sich an ihrer Trauer weiden. Ihre engsten Freunde waren zu Leibwächtern geworden, wehrten neugierige Nachbarn und Gaffer ab. Das Telefon klingelte ein Dutzend Mal täglich, und Gails Handy musste ständig aufgeladen werden.
Darryl hatte versucht sich möglichst rauszuhalten und sich in sein Zimmer zurückgezogen. Er konnte die Stimmen im Wohnzimmer und in der Küche hören, und oft wollten sie ihm Tee, Bier oder ein Sandwich anbieten, klopften an seine Tür und riefen ihn. Und wenn am Abend alle verschwunden waren, fühlte sich das Haus kalt und leer an, Joseph und Cal gingen auf Zehenspitzen, um ihre Mutter nicht zu stören, erledigten ihre Hausaufgaben, ohne daran erinnert werden zu müssen, machten sich notfalls selbst was zu essen. Wenn Darryl anderswo gebraucht wurde, sagte er ihnen: »Jetzt habt ihr die Verantwortung. Wenn’s dringend ist, ruft mich an.«
Frank Hammell hatte ihn gefragt, ob er sich freinehmen wolle, aber er hatte den Kopf geschüttelt.
»Die Bullen sind nutzlos, Darryl«, hatte Hammell gesagt. »Aber ich hab meine Fühler ausgestreckt. Wir werden der Sache auf den Grund gehen, so oder so.«
Draußen vor dem Haus blieb Darryl stehen, um den Himmel zu betrachten. Viele Sterne sah man nie – Lichtverschmutzung, zu viel Helligkeit überall. Auf dem Bürgersteig und den Windschutzscheiben der Autos bildete sich schon der erste Nachtfrost. Viele Menschen waren noch wach – Fernseher leuchteten hinter Wohnzimmerfenstern; Musik drang von einer Party irgendwo weiter
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