Maedchengrab
Tom, nur an der Grundschule. Ich habe im Unterricht für mein Leben gern Märchen erzählt. Wenn man erst mal die Aufmerksamkeit der Kinder gewonnen hat, kann man sich ihrer sicher sein.«
Sie verstummte. Er wusste, dass sie wieder an ihre Tochter dachte; er bezweifelte, dass Sally überhaupt je länger als einige Minuten am Tag aus ihren Gedanken verschwand. Sie setzte immer wieder an, ihr Glas auf dem Tisch abzustellen, doch es passierte nicht. Es war sowieso fast nur noch Eis darin.
»Soll ich noch was holen?«, fragte Rebus.
»Meine Runde.«
»Ich hab noch«, sagte er, er hatte sein Bier kaum angerührt. »Hab den Wagen draußen stehen, und das ist heute nicht mein erstes.«
Sie beschloss, trotzdem noch einen Wodka zu trinken, und griff in die Tasche auf der Suche nach ihrem Geld. Rebus spielte mit dem Untersetzer, während er auf ihre Rückkehr wartete.
»Also«, sagte sie, als sie sich am Tisch vorbeizwängte und wieder setzte, »jedenfalls haben Sie’s geschafft, die Akten über diese anderen armen Frauen auszugraben.«
»Die Unterlagen sind nicht so vollständig, wie mir lieb wäre.« Er sah ihren Blick. »Das kommt vor – Sachen werden verlegt; vieles wird gar nicht aufgeschrieben …«
»Oh.«
»Nicht dass es bei Sally Lücken gibt«, versicherte er ihr.
» Wäre es wohl möglich, dass ich …? Nein, bestimmt nicht.« Sie senkte den Blick.
»Ich möchte bezweifeln, dass Sie die Akten trösten würden. Sie würden sie sicher …«
»Verstörend finden?«
»›Kalt‹, wollte ich sagen. Niemand, der an dem Fall gearbeitet hat, kannte Sally persönlich, verstehen Sie?«
Sie nickte. »Sie wollen mich schützen.«
»Ich weiß nicht, ob ich es so formulieren würde.«
Sie beschäftigten sich eine Weile mit ihren Getränken. Rebus wusste nicht, was er sagen sollte. Der Gedanke, dass Nina Hazlitt in der Luft hing, gefiel ihm nicht, aber so war es. Die Vergangenheit hatte sie in ihrer Gewalt und ließ sie nicht los. Auch er arbeitete mit der Vergangenheit, aber er konnte sie jederzeit in einer Kiste verschwinden lassen.
»Zieht es hier?«, fragte er.
»Nein, nein.«
»Ich dachte, Sie würden zittern.«
»Das passiert mir manchmal. Kennen Sie die Redensart, jemand ist gerade über mein Grab gegangen?«
»Ich hab sie nie richtig verstanden.«
»Jetzt, wo Sie’s sagen, ich bin nicht sicher, ob ich sie verstehe. Sicher, dass Sie nichts mehr trinken wollen?«
»Soll ich wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet werden?«
»Könnten Sie sich nicht rausreden?«
»Heutzutage nicht mehr.«
Sie wurde wieder nachdenklich. » Wenn Sie an ungeklärten Fällen arbeiten, müssen Sie häufig mit Familien zu tun haben, die jemanden verloren haben …« Sie sah, dass er nickte. »Ich spreche auch mit vielen Betroffenen. Hauptsächlich übers Internet. Wussten Sie, dass in England und Wales keine Todesurkunde ausgestellt werden kann, egal wie lang eine Person schon vermisst wird? Das ist die Hölle für die Angehörigen – es bedeutet, dass sie den Nachlass nicht regeln können. Hier oben wird einem nach sieben Jahren vom Gericht die sogenannte Todesvermutung bescheinigt.«
» War das so bei Ihnen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Eine Vermutung ist nicht das, was ich brauche. Ich muss wissen, was passiert ist.«
»Auch noch nach so langer Zeit?«
»Auch noch nach so langer Zeit«, wiederholte sie. Dann seufzte sie, trank ihr Glas in zwei Zügen aus und fragte, ob er sie zurück zum Hotel begleiten würde.
»Mit Vergnügen«, sagte er.
Als sie die Victoria Street hinaufgingen, gestand er ihr, dass er noch nie zuvor im Missoni gewesen war.
»Ich möchte bezweifeln, dass ich es mir normalerweise würde leisten können«, erklärte sie, »aber ich habe einen Last-Minute-Deal bekommen.« Der Mann im Kilt war anscheinend nicht mehr an der Tür. Sie blieben vor den Stufen stehen, beide zündeten sich eine Zigarette an und schwiegen gesellig, während Verkehr und Fußgänger an ihnen vorbeizogen.
»Die Zimmer sind ganz schön«, sagte sie schließlich. »Eigentlich …« Sie sah in ihre Tasche. »Eigentlich wollte ich Ihnen was geben, aber ich hab’s oben vergessen.« Sie sah zu ihm auf. »Möchten Sie …« Aber er schüttelte schon den Kopf.
» Würden Sie dann hier warten, bis ich es geholt habe?«
»Sicher.«
Sie drückte ihre Zigarette aus und ging hinein. Drei Minuten später war sie wieder da mit einem Buch in der Hand.
»Hier«, sagte sie und reichte es ihm.
Rebus las laut den Titel: » Die
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