Männer sind Helden
„Siehst du irgend etwas?“
„Die Gruppenleiterin ist gerade rein gekommen. Sie fummelt an dem CD-Player herum.“
„Und sonst, siehst du sonst etwas?“
„Nein, nichts!“
Ich zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und zündete eine hinter vorgehaltener Hand an. Ich hatte den Rücken zur Straße gedreht und merkte nicht, dass ein Mann mit seinem Hund um die Ecke gekommen war. Plötzlich hörte ich einen Hund kläffen und drehte mich blitzschnell um. Gerade im richtigen Moment, denn ein dicker Rauhaardackel versuchte, nach meinem Hosenbein zu schnappen.
„Passen Sie doch auf ihren Köter auf!“
Der Mann, ein unscheinbarer Herr in einem grauen Popelinemantel und einer merkwürdigen Plastikmütze auf dem Kopf, zog seinen Kopf zwischen die Schultern und bat um Entschuldigung: „Waltraud macht so etwas sonst nie!“ Er zerrte an der Hundeleine, und ich hatte das Gefühl, als wolle er stehen bleiben, um sich mit mir zu unterhalten.
„Ist schon gut“, sagte ich freundlich, um ihn loszuwerden.
Der Mann zögerte einen Moment, dann hob er seine Hand zum Gruß, wie bei Seeleuten üblich, und ging gemächlich weiter. Sein Rauhaardackel trottete hinter ihm her. Der Bauch des Tieres hing fast bis auf den Boden.
„Alex, komm hier rauf, das musst du dir ansehen!“ Er kletterte zu mir hinunter und hielt mir seine Hand entgegen: „Ich zieh dich rauf!“ Die Astgabel war zu klein für uns beide, also stieg Rudi ein Stück weiter hinauf. Dort oben auf der Eiche war es noch ungemütlicher als auf dem Bürgersteig. Der Ast war glitschig, und ich hatte große Mühe, mit meinen langen Beinen richtig Halt zu bekommen.
„Das musst du dir ansehen!“, wiederholte Rudi, „sonst glaubst du mir das nicht.“ Er reichte mir sein Fernglas hinunter, und ich stellte das Ding scharf. Was ich erblickte, verschlug mir wirklich die Sprache: Unsere Mädchen saßen mit den anderen Teilnehmerinnen im Lotossitz und mit geschlossenen Augen im Halbkreis vor der lila Gruppenleiterin. Sie sahen aus, als hätte ihr Geist soeben den Raum verlassen. Aber das war noch nicht alles: Sie saßen dort oben ohne! „Das gibt es doch gar nicht!“
„Habe ich dir zuviel versprochen?“
„Nee, Rudi, also das übertrifft wirklich alles, was ich erwartet habe. Was machen die da nur?“
„Das scheint was Esoterisches zu sein“, meinte Rudi von oben.
„Ich glaube, Reiki hat etwas mit Buddhismus zu tun.“
„Vielleicht“, rief Rudi mir zu, denn der Wind war noch stärker geworden und pfiff laut durch die kahlen Äste. Dann fing es auch noch an zu regnen. „Vielleicht sitzen die ja deshalb halbnackt da rum. Buddha trug doch auch nie mehr als einen Lendenschurz.“
Ich lachte lauthals über Rudis Bemerkung und vergaß dabei, mich festzuhalten. „Hilfe!“, schrie ich und klammerte mich mit aller Kraft an dem Stamm fest. „Rudi, hilf mir!“ Er kletterte zu mir herunter und zog mich wieder zu sich herauf. Ich übergab Rudi das Fernglas und stieg eine Etage höher, damit Rudi sich die Szene angucken konnte. „Der Raum ist leer“, sagte Rudi, „der Kurs scheint zu Ende zu sein. Lass uns abhauen!“
Wir gingen zurück zu unserem Auto, um auf die Mädchen zu warten. Wir waren bis auf die Haut durchnässt, das Wasser lief uns sogar schon den Rücken hinunter. Rudi startete den Käfer und stellte die Heizung an. Binnen weniger Minuten waren alle Fenster beschlagen. Rudi nahm einen Lappen aus dem Handschuhfach und wischte seine Scheibe, bis das Guckloch groß genug war. Wir warteten vergebens. Nach zehn Minuten kam die Gruppenleiterin, um die Eingangstür abzuschließen. Wahrscheinlich waren die drei schon ins „Lipstick“ gegangen. Da wir beide nicht wussten, wo diese Kneipe ist, fragten wir einen Taxifahrer.
Der Typ, ein ungepflegter Kerl mit speckigen Bartstoppeln, beugte sich aus dem Fenster seines Autos und guckte uns abschätzend an: „Was wollt ihr denn da?“, fragte er und grinste unverschämt. Rudi ging nicht auf seine Anspielung ein: „Wir wollen unsere Freundinnen dort abholen.“
Drinnen im Auto quäkte der Funk, und der Taxifahrer hörte einen Moment zu. Er drückte auf sein Sprechfunkgerät: „Ich übernehme die Tour, Frieda.“ Er legte den ersten Gang ein und lenkte das Auto aus der Parklücke. „Das Lipstick ist in der Eichhofstraße“, sagte er noch, dann kurbelte er sein Fenster hoch und brauste davon.
Als wir in die Eichhofstraße einfuhren, sahen wir die Kneipe schon von weitem: Der Laden war grün
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