Männer und der ganz normale Wahnsinn
Deckenlampe verstärkt seine scharfen Gesichtszüge. „Ich. Vor einer Million Jahren.“ Ich gehe hinüber, halte es ins Licht, das nicht sonderlich hell ist. Allerdings hell genug, um zu sehen, dass ich viel besser war, als ich zugeben will. Ich habe nie realistisch gemalt – mehr Richtung van Gogh als Richtung Rembrandt –, aber ich habe in diesem Bild etwas festgehalten, das mir damals gar nicht aufgefallen ist: das Wesen meines Vaters. Seine ruhige Stärke, seine Sanftheit und irgendwie sogar seinen Humor.
Ich erinnere mich daran, wie er mich früher zu Tom’s mitgenommen hat, wo es diese unglaublich leckeren Schokoladen-Milchshakes gab. Oder wie er mir immer und immer wieder dasselbe Buch vorgelesen hat, ohne sich zu beschweren, und wie er immer die Zeit fand, mir zuzuhören, egal, was ich zu sagen hatte, egal wie dumm es war.
Wie konnte ich mich nur jemals vernachlässigt gefühlt haben?
„Das ist mein Vater.“ Vorsichtig lehne ich das Bild an die Wand hinter dem Bett und gehe einen Schritt zurück. „Er starb, als ich dreizehn war.“
„Du hast das gemalt, als du ungefähr in meinem Alter warst?“
„Nein, später. Aus dem Gedächtnis.“
„Wie machst du das? Ich meine, ohne jemanden vor dir zu haben?“
„Ich weiß nicht. Irgendwie fühle ich … was ich male. Und das geht dann durch meine Fingerspitzen direkt auf die Leinwand.“
Ich hätte erwartet, dass sie so was sagt wie ‚irre‘ oder ‚komisch‘, aber sie murmelt nur: „Warum malst du nicht mehr?“
„Ich schätze, ich habe mich irgendwann einfach für andere Dinge interessiert.“
Sie schaut mich mit strahlenden Augen an. „Kannst du ein Bild von mir malen? Für meinen Dad? Er hat im November Geburtstag.“
Mein Herz krampft sich zusammen. „Ach weißt du … es ist so lange her …“
„Biiiitteeee! Ich glaube, er würde sich wahnsinnig freuen. Und ich kann von meinem Taschengeld die Farben und alles zahlen …“
Lachend schlinge ich den Arm um ihre Schultern und ziehe sie an mich. „Du musst mich doch nicht bezahlen“, sage ich, und dann wird mir klar, dass ich gerade zugestimmt habe.
„Aber das will ich. Das wäre eine – wie nennt man das? Eine Anzahlung?“
Ich sehe dieses wunderschöne, kluge, liebe Kind an, und plötzlich beginnt in meinem Innern etwas aufzublühen, als die greifbare, menschliche Alyssa sich in meinem Kopf in ein Bild verwandelt.
Es wäre toll, sie zu malen.
Ich muss sie malen.
Ich muss malen, fertig!
Die Erkenntnis nimmt mir den Atem.
„Ginger! Bist du in Ordnung? Warum weinst du?“
Das ist mir nicht einmal aufgefallen. Ich schüttle lachend den Kopf. „Das erkläre ich dir ein anderes Mal. Aber jetzt lass uns erst mal sehen, ob ich noch eine leere Leinwand finde, um schon mal eine Skizze zu machen.“
Als Shelby und Mark kommen, um die Kinder abzuholen, habe ich die Skizze für das Porträt – Ganzkörper in Jeans und einem den Bauch bedeckenden Top – schon fast fertig.
„Unten wartet unser Taxi“, flüstert Mark, nimmt Corey zärtlich hoch und drückt den schlaffen Körper gegen seine Brust. Shelby will Hayley tragen, aber ich halte sie auf.
„Vergiss nicht, du bist schwanger“, flüstere ich und nehme das Kind selbst hoch.
Sie wartet, bis Mark das Zimmer verlassen hat, und wendet sich mir dann mit einem breiten Lächeln zu. „Mir geht’s gut.“
Zeit, eine Augenbraue zu heben. „Das heißt?“
„Das heißt, dass Mark gesagt hat, er wisse, wie unglücklich ich sei, und dass er nicht eher Ruhe geben würde, bis ich total ehrlich sagen würde, was ich empfinde. Aber davor musste ich erst mal mir selbst gegenüber ehrlich sein.“
„Und …?“
„Und mir ist klar geworden, dass ich verrückt werde, wenn ich nicht arbeite.“
„Woraufhin er sagte?“
„Dass er sich schon gewundert habe, wie ich es so lange ausgehalten hatte, dass er mir nie das Gefühl hatte geben wollen, dass er etwas dagegen hätte, wenn ich arbeite, dass ich es aber nicht bräuchte, wenn ich nicht wollte. Also werden wir zu einer Agentur gehen, die ihm Patienten empfohlen haben, und uns ein Aupair-Mädchen suchen, während ich mit den Leuten von der Zeitschrift spreche, ob ich nicht überwiegend zu Hause arbeiten kann. Oh, und heute habe ich zum ersten Mal gespürt, wie das Baby sich bewegt hat!“
Ich bitte sie, Geoffs Leine zu nehmen, damit ich das mit ihm auch noch gleich erledigen kann. Als wir nach unten gehen, meint sie: „Es tut mir nur Leid, dass ich so blöd war und nicht
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