Männer und der ganz normale Wahnsinn
Vorbeigehenden einen Streit vom Zaun brach, weil sie einen Obdachlosen am Straßenrand einfach ignorierten. Sie gab ihm einen Zehn-Dollar-Schein.
So war das immer. Ich weiß, dass meine Eltern als Dozenten an der Columbia nicht sonderlich viel Geld verdienten, vor allem nicht in ihrer Anfangszeit, aber sie waren sich immer derer bewusst, die noch weniger hatten. Es ging sogar so weit, dass ihr sozialistisches Gewissen erst Frieden fand, wenn wir selbst kaum mehr hatten als die armen Wesen, die sie unterstützten. Ich weiß Großzügigkeit zu schätzen – schauen Sie mich nicht so vorwurfsvoll an, ich spende auch gelegentlich, ätsch –, aber wenn man wochenlang Linsensuppe und Makkaroni mit Käse essen muss, weil man sich nichts anderes leisten kann, dann ist das was anderes.
Vermutlich dachten sie, oder hofften zumindest, dass ihr selbstloses Beispiel in ihrer Tochter einen gleichgesinnten Opferwillen einpflanzen würde. Stattdessen hat diese Kindheit voller kulinarischer Entbehrungen ein unstillbares Verlangen nach erstklassigen Filetsteaks und lächerlich teuren, hässlichen kleinen Früchten, die man nur an ungefähr zwei Tagen im Jahr kaufen kann, hinterlassen.
Ich tat so, als ob ich sie noch nie zuvor in meinem Leben gesehen hätte, und schlenderte in die Grand Central Station, so graziös es eben geht, wenn drei Segeltuchtaschen verschiedener Größe an einem herunterbaumeln. Ich war zutiefst dankbar, dass wir etwa dreißig Grad hatten und es somit ziemlich unwahrscheinlich war, jemandem zu begegnen, der einen Pelzmantel trug. Ich würde nicht im Traum daran denken, mit Nedra zwischen Oktober und April die Fifth Avenue entlangzuspazieren. Tote Tiere als Moderichtung lassen sie total durchdrehen.
Deswegen darf sie auch nie von der Nerzjacke erfahren, die in meinem Schrank hängt, eine Schwäche, der ich etwa vor vier Jahren erlag, als ich meinen ersten Großkunden an Land zog, einen Dot.Com-Unternehmer, der gelangweilt von seinem Loft in SoHo erzählte, für das er „nur“ fünf Millionen Dollar gezahlt hatte, und sagte: „Tun Sie’s doch einfach.“
Zumindest habe ich jetzt eine Nerzjacke zum Angeben. Der Kunde kann sich inzwischen glücklich schätzen, wenn er wenigstens sein Hemd behalten hat.
Aber ich schweife ab. Nachdem ich Nedra an all den potenziellen Landminen vorbei zum Zug geführt hatte, bemerkte ich, dass es durchaus gewisse Vorteile mit sich brachte, dass meine Mutter bei mir war. Zum einen ist es nicht möglich, mit meiner Mutter zu zanken und zugleich wegen Greg zu leiden. Zum anderen war es weit weniger wahrscheinlich, dass Männer mich anmachten, solange meine Mutter wild gestikulierend neben mir herlief. Und das war gut so, denn ich hatte keine Lust, solche Irregeleiteten abzuwehren. Wohingegen ein oder zwei unerschrockene Wesen versuchten, sie anzumachen. Meistens aber konnte ich auf meine New Yorker Mitmenschen zählen, sie ignorierten die pflichtbewusste Tochter, die diese verrückte Frau nach einer kurzen Fahrt in die Stadt wieder ins Irrenhaus zurückbrachte. Und während ich noch immer beim Gedanken daran erschauerte, wie Phyllis auf die politischen Ausbrüche meiner Mutter reagieren würde, dachte ich, dass zumindest garantiert keine peinlichen langen Pausen entstehen würden. Wenn auch zweifellos Tausende kurze.
Aber im Grunde verstehe ich nicht wirklich, warum ich so nervös bin. Phyllis und ich sind immer gut miteinander ausgekommen. Und schließlich bin ich diejenige, die verlassen worden ist. Wenn schon, dann sollte es ihr peinlich sein, mich zu treffen, und nicht andersrum.
Während ich über all das nachgrüble, fällt mir plötzlich auf, dass meine Mutter seit einer halben Stunde oder so merkwürdig still ist. Wenn man dieses Wort auf Nedra anwendet, heißt das genauso viel, wie wenn ein Hurrikan zu einem tropischen Sturm abgeflaut ist. Aber es stimmt: Sie liest tatsächlich schweigend, die Stille wird nur von einem gelegentlichen Schnauben der Empörung unterbrochen. Ich blicke von meinem feurigen Roman hoch, auf dessen Cover bebende Brüste und wallende Locken zu sehen sind. Und die Heldin selbst ist auch nicht von schlechten Eltern.
„Was liest du da?“ frage ich. Der Wälzer auf ihrem Schoß wiegt deutlich mehr als meiner.
„Hm?“ Sie schaut mich mit gerunzelter Stirn über ihre Brillengläser hinweg an und dreht dann das Buch so, dass ich den Titel lesen kann. Ah. Irgendeine feministische Abhandlung über die Menopause, das Thema ist momentan total
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