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Männerstation

Männerstation

Titel: Männerstation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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über das Laken, dort, wo der Kopf des toten Brohl lag. Wieder jagte ein eiskalter Schauer über Evelyns Rücken. Sie sah sich um, ob keine Hilfe käme, aber der Gang war leer. Schwester Inge zog das Bett im kleinen Zimmer zehn ab, Schwester Angela war in die Kapelle geeilt, um für die Seele des Verstorbenen zu beten.
    »Du wirst nicht schreien«, sagte Beißelmann langsam. »Und wenn du schreist … gut. Tue es. Es macht mir alles nichts mehr aus.«
    Seine Hand lag auf dem Gesicht Brohls. Es war, als müsse er seinen Freund trösten, der unter einem großen Unglück zusammengebrochen war.
    »Sie … Sie sind verrückt«, stammelte Evelyn Frerich. »Was wollen Sie überhaupt von mir?«
    »Du sollst nur mitkommen.«
    »Wohin?«
    »Wo ich hingehe.«
    Beißelmann sah sie wieder an, und sein starrer Blick lähmte fast ihren Atem. Was sie einmal mit Beißelmann getan hatte, war eine Laune gewesen, ein Moment nicht mehr einzudämmender Lust, ein Naturgesetz, wie sie sich sagte. Es war ohne Bedeutung für die nachfolgende Zeit … man duzt ja auch nicht jeden, mit dem man zusammen eine Tasse Kaffee trinkt. Und mehr war es für Evelyn Frerich nicht … das Stillen eines Durstgefühls. Es war völlig ohne Bedeutung. Daß der Krankenpfleger davon ein Recht herleitete, so mit ihr zu reden, verstand sie nicht. Noch weniger begriff sie, daß in Beißelmann mit diesem Erlebnis eine Lebensanschauung zerbrochen, gewissermaßen ein seelischer Mord geschehen war, denn was er getan hatte, war vor zehn Jahren das Motiv eines Doppelmordes gewesen, den das Gericht allerdings als Totschlag auslegte.
    Beißelmann hatte auf den Knopf des Lastenaufzuges gedrückt; die gummiabgedichteten Türen glitten auseinander und gaben einen weißen, mit Kunststoff ausgelegten Raum frei. Er schob das Totenbett hinein, und Evelyn drückte er mit diesem Bett vor sich her. Sie wollte schreien, sie riß den Mund auf, aber das blanke Entsetzen erstickte jeden Laut. Als der Ton endlich aus ihr herausbrach, als sie schrie, waren die Türen schon wieder zugeglitten. Der Fahrstuhl summte in die Tiefe, und ihr Schrei wurde aufgesaugt wie von einem Watteberg.
    Beißelmann lächelte schwach.
    »Warum?« fragte er. »Diese Ohren hören nichts mehr.«
    Evelyn schrie weiter. Sie hieb mit den Fäusten gegen die Wände, sie kreischte hysterisch und in wahnsinniger Angst. Beißelmann drückte auf einen Knopf. Zwischen dem normalen Keller und dem Kühlraum ließ er den Fahrstuhl halten. Evelyn fuhr herum. Ihre großen blauen Augen waren weit vor Schrecken.
    »Wo sind wir?«
    »Vor der Einfahrt in das Schweigen«, sagte Beißelmann dumpf.
    »Was wollen Sie tun?« schrie Evelyn.
    »Nichts …«
    »Was habe ich Ihnen getan?«
    »Das ist eine andere Frage.« Beißelmann zupfte das etwas verschobene Laken am Fußende des fahrbaren Bettes zurecht. Brohls gelbliche Zehen hatten hervorgesehen. »Willst du mir versprechen, nicht mehr zu schreien? Dort unten«, er zeigte auf den Boden des Fahrstuhles, aber Evelyn wußte, was er meinte –, »ist es still, und man schreit nicht in Gegenwart der Menschen, die in ein besseres Leben eingegangen sind.«
    Es war, als lege sich eine Riesenhand auf Evelyns Mund und verhindere jeden Ton. Was Beißelmann mit dumpfer Stimme sagte, war so völlig unfaßbar, daß sie ihn nur noch anstarren konnte und an die Kabinenwand zurückwich.
    »Du wirst nicht mehr schreien?« fragte Beißelmann.
    »Nein …«
    »Dann fahren wir weiter.«
    Er drückte auf den Knopf, ein leises Summen, ein Beben, und die Kabine glitt hinunter in den Keller der ewigen Stille.
    Mit taumelnden Beinen folgte Evelyn dem quietschenden Totenbett. Nach dem Weggleiten der Türen sah sie einen langen, schwach beleuchteten, gekachelten Gang vor sich. Beißelmann rollte die Leiche Brohls auf eine große Tür zu, die durch einen Hebelverschluß – wie ein überdimensionaler Eisschrank – verschlossen war. Lautlos warf er den Hebel herum, die Tür schwang auf, und ein weißer, ebenfalls gekachelter Raum lag vor ihnen. Ein eisiger Hauch wehte sie an, und trotz der Kühle verspürte Evelyn den leichten süßlichen Geruch, der auch über allen in der Sommersonne liegenden Friedhöfen schwebt. Sie begann zu würgen, klammerte sich an der dicken Tür fest, beugte sich vor und hatte das Gefühl, sich erbrechen zu müssen.
    Beißelmann schob das quietschende Bett zu einem auf einem Sockel stehenden Tisch mit einer Kunststeinplatte, fuhr den Leichnam parallel zur Platte und schob dann mit

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