Männerstation
Beißelmann das Chefzimmer. Er benutzte für die Rückkehr zur Männerstation III nicht den Fahrstuhl, sondern ging die Treppen hinauf. Dort überholte er die Schwester Ernst Brohls, die man gerufen hatte. Eine dicke, weinende Frau, die Angst hatte, die Station zu betreten. Beißelmann kannte sie, sie hatte ihren Bruder einmal besucht.
»Kommen Sie mit«, sagte er heiser. »Er liegt jetzt auf Zimmer zehn.«
»Ich kann nicht.« Frau Schmeltzer – ihr Mann war Betriebsleiter und hatte gesagt: »Geh du hin … ich habe keine Zeit«, in Wahrheit aber verzieh er seinem Schwager nicht, daß er es nicht weiter als bis zum Metalldreher gebracht hatte und nicht mehr standesgemäß war – stemmte sich fast gegen den leichten Druck, mit dem Beißelmann sie in den Flur der Station III schieben wollte. »Ich kann nicht zusehen, wie er stirbt.«
»Es ist doch Ihr Bruder!«
»Ich habe die Nerven nicht dazu.«
Beißelmann betrachtete die dicke, weinende Frau. »Eigentlich müßten Sie stark genug sein«, sagte er rauh. »Sie sind doch gut in Fett gelagert.«
Frau Schmeltzer starrte den Krankenpfleger entgeistert an. Ihre Tränen versiegten, als habe ein heißer Wind sie plötzlich ausgetrocknet.
»Ich werde mich über Sie beschweren!« schnaufte sie.
»Bitte. Aber erst kommen Sie mit.«
»Ich kann es nicht sehen! Und außerdem ist er selbst schuld! Gelebt hat er immer ein Schluderleben, wir haben uns ja schämen müssen; alles hat er versoffen und verraucht, und Frauen hat er immer gehabt, die ihn ausnutzten. Lieber zehn Jahre richtig gelebt, als zehn Jahre länger gelebt, das war seine Rede. Nun hat er es! Im Leben bekommt man für alles seine Quittung! Und die Kosten, die er uns jetzt noch macht. In keiner Versicherung war er, alles versoffen, und nun müssen wir für alles sorgen, sagt Hugo, mein Mann.«
Beißelmann hatte den Wortschwall nicht unterbrochen. So ist das, dachte er. Ein Hund stirbt würdevoller.
»Ich kann nicht. Ich würde zusammenbrechen. Wenn es vorbei ist … dann ja … Aber der Todeskampf …«
»Einmal werden Sie auch so daliegen«, sagte Beißelmann heiser. »Es kann gar nicht lange dauern …«
Frau Schmeltzer riß den Mund auf. Kaltes Entsetzen ergriff sie und schüttelte sie. »Wie … wieso …«, stammelte sie.
»Wissen wir, wann wir sterben?«
Frau Schmeltzer rang die Hände. Dann setzte sie sich in Bewegung, ging neben Beißelmann her und zögerte nur ein wenig, als er die Tür von Zimmer 10 leise öffnete. Das Fenster war abgedunkelt. Am Bett saß Schwester Angela und betete stumm. Dr. Bernfeld war schon gegangen.
Ernst Brohl lag wach in den Kissen. Er war bei Besinnung, aber es war ein ständiges Auf- und Abgleiten in einen Zustand von Schweben und Klarheit. Er sah die beiden Gestalten ins Zimmer kommen und erkannte das runde Gesicht seiner Schwester.
»Julie …«, sagte er kaum hörbar.
»Ernst …«
»Das ist schön, daß du kommst.«
Beißelmann verließ lautlos das Zimmer. Die Hände hatte er geballt in die Kitteltaschen gesteckt.
Man muß sich schämen, ein Mensch zu sein, dachte er dumpf.
Selbst die Sterbenden werden noch belogen.
*
Am Nachmittag kam Evelyn Frerich ihren Mann besuchen. Beißelmann hatte nach dem Mittagessen im Treppenhaus Posten bezogen. Er stand am großen Fenster und sah hinab zum Eingang. Als er die schlanke Gestalt Evelyns durch den Vorgarten kommen sah, ihr in der Sonne leuchtendes blondes Haar, begann sein Herz zu zucken. Er lief die Treppen hinunter und begegnete ihr im großen Eingangsflur hinter der Schleuse, die von der Pfortenschwester bewacht wurde und durch die niemand ungesehen gehen konnte.
»Guten Tag, Frau Frerich«, sagte er laut, weil einige Ärzte im Flur standen und OP-Schwester Innozenzia sich in seiner Nähe mit einer anderen Schwester unterhielt. »Ihr Mann erwartet Sie schon. Und er hat sich sehr über die Päckchen gefreut.«
»Die Päckchen … ach so. Gut, daß Sie mir das sagen …« Sie musterte Beißelmann, als sei er ein Fremder, der es gewagt hatte, sie anzusprechen. Welch ein Monstrum, dachte sie nüchtern. Er sieht aus wie ein vertrockneter Riesenaffe.
Sie nickte, fast so hoheitsvoll wie eine Königin, die eine Meldung entgegengenommen hat, und ging an ihm vorbei, mit wippendem Körper, klappernden, hohen Absätzen und langen, schlanken Beinen. Beißelmann starrte ihr nach. Seine Zunge fuhr schnell über die trockenen Lippen, und er ärgerte sich maßlos, daß hinter ihm ein junger Arzt mit der Zunge schnalzte
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