Männerstation
beiden Händen, vorsichtig und fast behutsam, Ernst Brohl vom Bett auf den glatten Steintisch. Sorgfältig zog er das Leinentuch wieder glatt, drückte die Enden unter die Füße und den Kopf, ging hinüber zum Thermometer, nickte zufrieden und kam langsam zu Evelyn zurück, die noch immer an der Tür stand.
»Es ist kühl genug«, sagte Beißelmann. »Mach die Tür zu.«
»Aber …«
»Zu!« sagte Beißelmann sanft.
Evelyn stolperte in das Zimmer. Wie von Geisterhand – es war aber nur der im Boden eingebaute Türschließer – klappte die Tür hinter ihr zu. Als das Schloß einrastete, zuckte sie zusammen und wollte wieder schreien. Zitternd vor Kälte und Grauen sah sie sich schnell um. Noch vier andere, zugedeckte Körper lagen auf den Tischen. Aus den Laken hingen an einem Bindfaden Zettel heraus. Name, Vorname, Wohnort, Straße, Geburtsdatum, Sterbedatum. Beißelmann sah Evelyns Blick.
»Die Schildchen hängen an der großen Zehe«, sagte er fast zufrieden. Er setzte sich auf einen Hocker und sah Evelyn Frerich mit seinen ausdruckslosen Augen lange und schweigend an. Schließlich legte er die großen Hände aneinander und rieb die Handflächen gegeneinander. »Was war mit Doktor Bawuno Sambaresi?« fragte er ohne Übergang. Evelyn lehnte sich gegen die eisige Kachelwand. Sie war kaum noch fähig, zu denken; sie bestand nur noch aus Angst und Grauen.
»Wieso?« fragte sie kaum hörbar. Aber in der Stille des Totenraumes klang der leiseste Laut wie ein lauter Ruf.
»Was hast du mit ihm gemacht?«
»Nichts.«
»Du warst mit ihm allein.«
»Er hat mir die Röntgenbilder gezeigt. Ich habe an der linken Lungenspitze eine Verschattung … aber es ist harmlos, meinte er.«
»Du lügst«, sagte Beißelmann dumpf.
»Du kannst Doktor Sambaresi fragen, ob er …«
»Ich sehe an deinen Augen, daß du lügst.« Beißelmann beugte sich vor und starrte sie an. Evelyn wandte sich ab, drehte den Kopf zur Kachelwand und riß den Mund zu einem stummen Schrei auf. Die Stimme des Krankenpflegers prallte auf sie wie Faustschläge. »Ich kenne deine Augen … ich habe sie genau gesehen, als es passiert war … Sie waren voll Glanz, sie lebten wie ein Springbrunnen in der Sonne, die jeden Wassertropfen leuchten und glitzern läßt. Kaskaden waren in deinen Augen, als stürze dein Blut schäumend wie ein Wasserfall. Und so hast du vorhin ausgesehen, als du zurückkamst aus der Röntgenstation.« Beißelmann erhob sich. »Ich will wissen, was geschehen ist!«
»Sie … Sie phantasieren …« Evelyn Frerich preßte das Gesicht an die Wand. Sie spürte, wie Beißelmann langsam auf sie zukam, und es war ihr, als verdränge er die Luft und ließe sie ersticken.
»Du hast es mit ihm gemacht wie mit mir«, sagte Beißelmann leise. Er stand ganz nahe hinter ihr; während er sprach, wehte sein Atem über ihren Nacken. »Das ist nicht gut«, sagte Beißelmann heiser. »So etwas wie du dürfte nicht leben. So etwas wie du ist ein Unglück … es zerstört die Seele, die Moral, die Vorsätze, das wenige Gute im Menschen. Du bist auf der Welt, um Unglück zu bringen …«
Er faßte ihre Schulter, und diese Berührung war es, die Evelyn aufriß. Sie fuhr herum, sie schlug mit beiden Fäusten in das große, starre Gesicht Beißelmanns, sie trat gegen seinen Leib und rannte zu den Steintischen, als könnten die Toten ihr das Leben retten.
Beißelmann wischte sich über das Gesicht. Ein breiter Kratzer zog sich von der Stirn über die Nase und den Mund bis zum Kinn. Es brannte und blutete leicht. Wo ihn Evelyn getreten hatte, spürte er einen stechenden Schmerz, aber das alles war für ihn nur ein Gefühl am Rande, das ihn nicht ausfüllte. Er stand in der Mitte des kalten Leichenkellers, vornübergebeugt, mit hängenden Armen, starren Augen und eingezogenem Kopf. Er verfolgte mit den Blicken Evelyn, die hinter einen der Tische gerannt war und zwischen sich und Beißelmann als letzten Schutz den ausgestreckten, zugedeckten Körper hatte.
»Renate Semper«, sagte Beißelmann dumpf. »Neunzehn Jahre. Autounfall. Gestern. Eingedrückter Brustkorb … die halbe Lenksäule stak darin … Sie war ein hübsches Mädchen und wollte sich Weihnachten verloben.«
Evelyn wich schaudernd vor der zugedeckten Gestalt zurück. Der plötzliche Mut, die letzte Gegenwehr versanken wieder. Beißelmann ging nicht weiter. Er wischte sich wieder über den breiten Kratzer und sah auf das Blut an seinen Händen.
»Ich will doch nur dich«, sagte er leise.
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