Männerstation
»Verstehst du … dich … aber allein … Ich bringe dich um, wenn du es wieder tust … mit Doktor Sambaresi, mit anderen … Es macht mir gar nichts aus … ob ich hier lebe … oder im Gefängnis … ich lebe überall … Aber du bist gekommen … du ganz allein … ich habe es nicht gewollt … Nun ist das anders, wo du da warst … nun will ich … verstehst du das?« Er ging zur Tür und öffnete sie. »Ich weiß, wo du wohnst … ich werde kommen …«
Beißelmann trat zur Seite. Evelyn sah den langen, schwach beleuchteten Gang vor sich, den Weg in das Licht, in das Leben. Sie schnellte vor und stürzte an Beißelmann vorbei aus dem Totenkeller. Ihre blonden Haare wehten über sein Gesicht, als sie an ihm vorbeirannte, und er schloß die Augen und sog mit geblähten Nasenflügeln den Duft ein, der aus diesen flatternden Haaren wehte.
Dann ging er zurück zu einer Art Schreibtisch, nahm einen Zettel mit Bindfaden aus einem Kasten und füllte gewissenhaft die Personalien Ernst Brohls aus. Er band den Zettel um die linke große Zehe der Leiche, trottete in eine Ecke zu einem Waschbecken, wusch sich die Hände in heißem Wasser und tauchte sie anschließend in eine Sterillösung, sah noch einmal zurück auf die Tische mit den flachen, zugedeckten Körpern und verließ dann den Raum. Er schloß die Tür und ging langsam den gekachelten Gang zurück zum Lastenaufzug. Dort traf er Evelyn Frerich. Sie hatte sich in eine Nische gedrückt und weinte leise in beide Hände.
»Ich kann den Aufzug nicht kommen lassen …«, schluchzte sie. »Ich habe schon alle Knöpfe probiert.«
Beißelmann steckte einen kleinen Schlüssel in ein Schloß und drückte dann auf einen Knopf. Ein Lämpchen leuchtete grün auf. Irgendwo summte es wieder.
»Er kommt«, sagte Beißelmann tonlos. »Warum weinst du?«
Lautlos öffnete sich die breite Tür. Die Helle der weißen Kabine blendete sie fast.
»Bitte!« Beißelmann ließ Evelyn zuerst hineingehen. Dann fuhren sie hinauf in die Sommersonne, und bevor sie auftauchten aus dem Keller, sagte Beißelmann leidenschaftslos: »Ich komme morgen. Ich habe morgen meinen freien Abend.«
Ohne eine Antwort stürzte Evelyn Frerich aus dem Fahrstuhl, als sie das Parterre erreicht hatten. Selbst als sie vor dem Krankenhaus in der grellen Sonne stand, fror sie noch. Das Entsetzen lag wie Blei in ihren Füßen.
*
Prof. Dr. Morus war verreist, zu einem Kongreß, auf dem er über Gallenchirurgie sprechen sollte. Die Leitung des ›Schwestern-Fortbildungskurses‹ hatte Oberarzt Dozent Dr. Pflüger übernommen. Er ließ Beißelmann zu sich kommen, um ihm Anweisungen zu geben, welches Material gebraucht würde.
»Nanu, was haben Sie denn?« fragte Dr. Pflüger und musterte den breiten Kratzer in Beißelmanns Gesicht. »Wir haben doch im Krankenhaus keine Katzen, soviel ich weiß.«
»Nein. Ich bin hängengeblieben«, sagte der Krankenpfleger verschlossen. Schon Dr. Bernfeld hatte sich über den großen Kratzer gewundert, und Schwester Angela hatte ihn stumm gemustert und hinterher nichts anderes gesagt als »Na … nun«. Die Patienten der Männerstation III allerdings hatten ihre eigenen Versionen. Vor allem Lukas Ambrosius versicherte: »Mein lieber Herr Beißelmann … die Dame muß aber lange, gepflegte Nägel haben.« Daß Beißelmann darauf mit einem dumpfen Knurren reagierte, reizte Hieronymus Staffner zu einem Ausruf: »Und Temperament, Kinder! Nur blind muß sie sein!«
Beißelmann sah Staffner stumm an, wie er es immer tat und wie man ihn gar nicht anders kannte. Es war eine Musterung aus fischstarren Augen, in denen alles lag, was man hineinlesen wollte: Verachtung, Hilflosigkeit, Spott, Wut, Nachdenken, Frage oder Abwehr. Man konnte alles annehmen, weil dieser Blick gar nichts aussagte.
Deine Frau betrügt dich mit Oberarzt Dr. Pflüger, dachte Beißelmann und wandte sich von dem fröhlichen Staffner ab. Sie zerkratzt ihm nicht das Gesicht sondern den Rücken, wenn sie ihn umfaßt und lustvoll die Nägel in sein Fleisch gräbt. Und du liegst da mit noch einem Bein und glaubst, die Welt um dich habe sich nicht geändert bis auf einen Stumpf, der noch einmal nachoperiert werden muß. Wieviel Narrheit und Betrug …
Beißelmann wollte sich von Oberarzt Dr. Pflüger abwenden, aber der klopfte mit dem Bleistift auf die Tischplatte.
»Sie sind hängengeblieben?« fragte er gedehnt. »Von der Stirn bis zum Kinn? Das zeigen Sie mir mal, wie man das kann … mit dem Gesicht hängenbleiben
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