Männertaxi: Eine turbulente Komödie (German Edition)
meine vier Geschwister. Aber auf einigen Fotos sehen Sie auch meine Freunde und Bekannte, die mich in all den Jahren begleitet haben.« Ich schaue Frau Mattheuser aufmerksam an, denn die Traurigkeit in ihrer Stimme ist nicht zu überhören. In diesem Moment frage ich mich, warum ich eigentlich noch nie Besuch bei Frau Mattheuser gesehen habe. Ich glaube, ich habe noch nie mitbekommen, dass Frau Mattheuser sich mit jemandem unterhalten hat, der nicht in unserem Hause wohnt. Ich habe auch noch nie Lachen oder etwas lautere Musik aus ihrer Wohnung gehört. Eigentlich habe ich meine Nachbarin immer nur wahrgenommen, wenn sie mich neugierig beobachtet hat. In mir regt sich das schlechte Gewissen. Ich erkenne gerade, dass ich überhaupt nichts von ihr weiß. Da wohnt man jahrelang direkt nebeneinander und kennt sich dennoch nicht!
»Haben Sie etwas Zeit?«, reißt Frau Mattheuser mich aus meinen Gedanken. »Ja, ich habe …« Ich zögere einen Moment. Hey, das ist immer noch die Nachbarin, von der ich mich beobachtet und verfolgt fühle. Und es ist die Frau, meldet sich das schlechte Gewissen zu Wort, die du seit deinem Einzug ausnahmslos unfreundlich abgekanzelt hast . Was wäre eigentlich passiert, wenn sie nicht im Flur umgefallen wäre, sondern in ihrer Wohnung? Womöglich hätte es tagelang niemand gemerkt. Oder vielleicht sogar noch länger nicht. Sie wäre vermutlich verdurstet, ganz langsam und elendig. Und dann wäre irgendwann ihr Briefkasten übergequollen und die Polizei gekommen, um die Wohnung aufzubrechen, und womöglich hätte man mich für dieses Dilemma beschuldigt, weil ich eine so rücksichtslose Nachbarin bin und …
»Ein wenig Zeit habe ich schon, ja«, sage ich, ohne noch lange darüber nachzudenken.
»Dann koche ich uns beiden jetzt erst mal einen schönen Tee, wenn Sie mögen!« Frau Mattheuser strahlt mich an.
»Oh ja, Tee ist klasse! Aber ich kann das auch gerne machen. Bleiben Sie ruhig noch ein wenig sitzen«, antworte ich und will in die Küche gehen. Frau Mattheuser steht auf – ein kleines bisschen wacklig noch – und weist mir recht energisch den Weg ins Wohnzimmer. »Papperlapapp, das schaffe ich schon. Machen Sie es sich einfach gemütlich! Mir geht es schon viel besser.«
Ich bin beruhigt und verscheuche den Beamten vom Bundeskriminalamt, den ich gerade kurz vor meinem inneren Auge auftauchen sah (»Sie haben sich also auch nicht um die nette ältere Nachbarin gekümmert, Frau Schwärzenbach?«), aus meiner Phantasieecke.
Ich setze mich auf die imposante beige-braune Couch – und bekomme meinen Mund fast nicht mehr zu, als ich das riesige Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand entdecke. Meine Güte! Das ist eine richtige Bibliothek! Wie kann ein Mensch alleine so viele Bücher besitzen?
Ich habe das Gefühl, als würden die Buchrücken mich abschätzend mustern. So als wollten sie sagen: »Schäm dich.«
»Wieso« , entgegne ich ein bisschen trotzig, »ich habe doch schon ganz viele Bücher gelesen.«
»Drei, Isa. Es waren drei.«
Ich rechne schnell nach. »Nein«, begehre ich dann auf, »es waren fünf!«
»Es waren drei, Isa. Die beiden Bilderbücher, die du als Kind hattest, zählen nicht.«
Irgendwie bekomme ich gerade ein schlechtes Gewissen. Aber lesen war, ehrlich gesagt, noch nie so mein Ding. Vielleicht hat Frau Mattheuser die Bücher ja auch gar nicht alle gelesen. Genau! Sie hat sie bestimmt alle geschenkt bekommen, von ihrer Familie und ihren Freunden. Und weil sie jedes Mal Freude vorgetäuscht hat, wenn sie eins bekam, haben es sich ihre Freunde und Bekannte immer einfach gemacht und ihr jedes Mal ein Buch geschenkt. Und nur darum hat Frau Mattheuser sich diese riesigen Regale bauen lassen: um nicht blöd dazustehen, wenn der Besuch mal nachfragte, ob sie dieses oder jenes Buch schon gelesen hat. Genau! So muss es sein. Anders kann ich es mir gar nicht vorstellen.
»Die haben Sie nicht alle gelesen, oder?«, frage ich neugierig, als Frau Mattheuser ins Wohnzimmer kommt und zwei große Tassen Pfefferminztee auf den Tisch stellt.
»Natürlich habe ich sie alle gelesen, mein Kind.« Eigentlich hasse ich es, wenn man mich mein Kind nennt, aber in diese urige Wohnung voller Vergangenheiten und Erinnerungen passt es irgendwie.
»Alle? Aber das sind ja mehr als …« Ich versuche, diese Massen zu schätzen. »Also, das sind mindestens tausend Bücher!«
»Es sind genau zweitausendvierhundertfünfundachtzig.«
Das glaube ich jetzt nicht! Ich blicke
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