Maerchen aus Malula
vorbei!« flüsterte sie. Beide Brüder eilten ins Zimmer ihrer Mutter und waren beruhigt, als sie sahen, wie die Mutter ruhig atmend schlief.
Am nächsten Tag staunten die Brüder, als sie von der Arbeit kommend die Mutter schreien hörten.
»Was ist mit dir, Mutter?« fragte der Ältere.
»Mein Gold«, sprach die Mutter bitter. »Sie haben mich ausgeraubt«, schnaubte sie.
»Gold? Von welchem Gold redest du?« fragte der Sohn und setzte sich auf die Bettkante. Er schaute seine Mutter voller Sorge an. »Wir haben doch nie welches besessen.«
»Doch, das ganze Vermögen deines seligen Vaters trug ich mit mir herum, und diese Hexen haben es an sich gerissen. Sie tanzten den ganzen Tag hier nackt mit zwei Schlangen.«
»Beruhige dich, Mutter. Es ist gut. Wir werden das Gold aus ihnen herausprügeln, und sie werden ab morgen nicht mehr tanzen«, beschwichtigte der jüngere Sohn seine Mutter und schaute seinen Bruder besorgt an.
»Sie ist durch das Gift verrückt geworden«, flüsterte der ältere Bruder mit trockener Kehle.
Am nächsten Tag erzählte die Mutter, daß beide Schwiegertöchter zu ihr gekommen seien und vor ihren Augen Fleisch und Käse gegessen und den teuren alten Wein getrunken hätten.
»Welchen Wein, Mutter? Wir haben noch nie einen Tropfen im Hause gesehen«, antwortete der ältere Sohn ungeduldig und ging hinaus. Der jüngere aber rief Aida zu sich. »Hauch mich an!« befahl er, doch als sie es tat, rief er entsetzt: »Mein Gott, du stinkst nach Knoblauch. Hast du den ganzen Tag Knoblauch gegessen?«
»Ja«, erwiderte Aida, »ich mußte nach dem Rat einer guten Hexe eine Handvoll Knoblauch kauen und den Brei deiner Mutter auf die Nase tun, damit die Wundeentgiftet wird, aber nachdem ich meinen Mund fast verdorben hatte, wollte deine liebe Mutter es nicht haben. Sie sagte, das sei Gift.«
Der Sohn nahm den faustgroßen Knoblauchteig und wollte ihn der Mutter auf die Nase legen, doch diese beschimpfte ihn und behauptete, er und seine Frau wollten sie vergiften.
»Sie ist wirklich verrückt«, sagte der Sohn und genoß mit den anderen einen deftigen Braten.
»So gut habe ich noch nie gegessen«, rief der ältere Bruder begeistert. Er achtete genausowenig wie sein Bruder darauf, daß von nun an wilde Blumen zum Trocknen dort an der Wand hingen, wo die Löcher vergipst waren. Es ist kaum zu glauben, aber es gibt Männer, die nicht einmal merken, ob ihre Frauen ihnen eine Blumenvase, eine verschrumpelte Rübe oder gar einen Besen auf den Frühstückstisch stellen.
So vergingen zwei Tage, und am dritten Tag starb die Schwiegermutter an ihrem Wahn. Und von nun an folgten die beiden Brüder Aidas Anweisungen und lebten zufrieden mit ihren Frauen.
QUELLE
G. Bergsträsser (Hrsg.): Neuaramäische Märchen und andere Texte aus Ma’lula, Leipzig 1915. Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes, Band XIII, Nr..2 und 3.
Über den Autor
Rafik Schami
Daten, Fakten, Jahreszahlen
1946 in Damaskus/Syrien geboren
1965-1970 Gründung und Leitung der Wandzeitung „Al-Muntalek“ im alten Stadtviertel von Damaskus
1971 in die Bundesrepublik ausgewandert
1971-1979 Arbeit in Fabriken und als Aushilfskraft in Kaufhäusern, Restaurants und Baustellen; Studium der Chemie;
1979 Promotion
1971-1977 Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, in arabischer und deutscher Sprache
1980 Mitbegründer der Literaturgruppe „Südwind“ und des PoLiKunst-Vereins
1980-1983 Mitherausgeber und Autor der Reihe „Südwind-Gastarbeiterdeutsch“
1983-1985 Mitherausgeber und Autor der Reihe „Südwind-Literatur“
seit 1982 freier Schriftsteller
Auszeichnungen
2007 Nelly-Sachs-Preis
1997 Hans-Erich-Nossack-Preis
1994 Hermann-Hesse-Preis
1993 Adalbert von Chamisso-Preis
1987 Ehrenliste des Österreichischen Staatspreises
1985 Adalbert von Chamisso-Förderpreis
Lieferbare eBooks von Rafnik Schami
Das Geheimnis des Kalligraphen
978-3-446-23340-9
Damaskus im Herzen
978-3-446-23693-6
Weitere Kostenlose Bücher