Maerchen aus Malula
Stelle gefällt.
Die Geschichten und Märchen dieses Buches stellen eine Auslese dar. In meinem Dorf wurden auch Geschichten erzählt, die mich langweilen oder garärgern. Manche Geschichte habe ich ausgelassen, weil sie an anderer Stelle besser erzählt wurde, so z.B. die biblische Josephsgeschichte und eine kurze Fassung der Abenteuer Ali Saibaks, die im Arabischen sehr verbreitet ist. Meine Auswahl stützt sich auf die Sammlung »Neuaramäische Märchen aus Malula« und auf Fragmente, die mir einige Nachbarn vor langer Zeit erzählt haben. Nur die Geschichte von meinem Großvater und der heiligen Takla stammt von mir.
Ich gebe die Märchen und Geschichten meines Dorfes so wieder, wie ich mir vorstelle, daß sie einst fabuliert wurden. Vielleicht habe ich die eine oder andere auch erzählt, wie ich mir wünsche, daß sie so erzählt worden wäre. Es ist ein elementarer Bestandteil der Märchentradition, daß die Nacherzähler sich keine Zwänge und Grenzen durch eine einmal gehörte Geschichte auferlegen lassen, denn die Grenzen einer Geschichte sind die ihrer Erzähler. Sicher wurden und werden manche Märchen und Geschichten aus Malula auch anderswo erzählt. Ich habe Varianten in arabischen, persischen, jüdischen, griechischen, kurdischen und türkischen Geschichten gefunden. Welche Fassung nun die Urform darstellt und welche Gemeinschaft die Urquelle dieser Geschichten war, ist oft schwer herauszufinden und für den Genuß dieser eigenartigen Texte von zweitrangiger Bedeutung.
»Warum kannst du keine Geschichten erzählen?«fragte ich meine Großmutter eines Tages. Es war Winter, und wir saßen um den Holzofen herum. Mein Bruder hatte eine schlimme Grippe, lag fiebernd im Bett, und ich langweilte mich.
»Wie soll ich das können?« antwortete sie beschämt. »Vierzig Jahre lang habe ich unser Dorf Malula nicht verlassen. Damaskus habe ich erst vor zehn Jahren gesehen, als deine Mutter dich zur Welt brachte und meine Hilfe brauchte. Unser Leben in Malula war hart. Es war nicht die Zeit für Geschichten.« Diese Worte hallten in meiner Erinnerung wider, als ich durch die merkwürdige Begegnung in Nürnberg die Märchen meines Dorfes in die Hand bekam. Zwei Tage lang las ich die Geschichten, und erst am Morgen des dritten Tages gegen vier Uhr habe ich das Buch zugeklappt. Erschöpft machte ich das Licht aus und legte mich aufs Bett, aber ich konnte nicht einschlafen. In der Morgendämmerung jenes Tages dachte ich an meine Großmutter und wünschte mir, sie lebte noch, dann hätte ich ihr all diese Geschichten so erzählt …
DER EINÄUGIGE ESEL
oder
WIE EINER AUF DEM RICHTER
REITEN WOLLTE
In Malula lebte einst ein reicher Bauer, der viele Länder und Orte bereiste. Wenn er dann zurückkam, erzählte er von seinen Abenteuern in der Fremde, und die Bauern achteten ihn sehr, weil viele von ihnen nie die große Welt draußen gesehen hatten.
Der Bauer hielt sich für den klügsten Mann im Dorf, denn nicht einmal der Dorfälteste wagte es, ihm zu widersprechen.
Er heiratete eine junge und kluge Frau, hatte aber keine Achtung vor ihr.
Wenn sie ihm einen Rat geben wollte, unterbrach er sie: »Schweig, von dir brauche ich keinen Rat. Ich weiß es besser!«
Eines Tages kaufte der Mann auf einer seiner Reisen für hundert Piaster einen einäugigen Esel.
Seine Frau war erbost über den schlechten Handel, und sie versuchte, ihrem Mann zu erklären, daß er von den Städtern reingelegt worden sei, aber dieser schrie sie nur an: »Was verstehst du schon vom Handel? Dieser Esel ist kein einfaches Lasttier. Er ist klug und weise. Du wirst es sehen.«
Er fütterte den Esel mit dem besten Getreide. Dieser war aber ein gemeines Tier. Er schlug fortwährend aus, sobald sich die Frau ihm näherte.
Wenn sie sich darüber beschwerte, verhöhnte der Bauer sie.
»Er ist klüger und nützlicher als du«, sagte er und zeigte ihr, wie sanftmütig der Esel wurde, wenn er auf ihn zuging. Und in der Tat, der Esel fügte sich ergeben dem Willen seines Herrn, was dieser ihm auch immer befahl. So begann die Frau, den Esel zu hassen.
Kurze Zeit später mußte der Bauer wieder eine Reise antreten, und er befahl seiner Frau: »Gib gut acht auf den Esel, laß ihn keinen Hunger leiden. Was du ihm zufügst, tust du mir an.«
Gegen Mittag kam ein Händler, der Kleider und Schmuck von Haustür zu Haustür feilbot. Der Frau gefiel eine schöne Halskette und ein Kleid aus gutem Stoff, und so bot sie dem Mann kurzerhand den Esel
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