Maerchen aus Malula
kann.«
Hassan zog dennoch hinaus, aber sosehr er sich auch bemühte, er fand den ganzen Tag keine Arbeit. Als es dunkel wurde, sah er in der Ferne die Lichter eines großen Schlosses und eilte dorthin. Es war bereits spät, als er das Schloßtor erreichte. Er klopfte an, ein großer Mann öffnete und schaute Hassan an. »Was willst du hier?« fragte er.
»Ich suche Arbeit. Haben Sie Arbeit für mich, Herr?«
»Sicher, aber bei mir wirst du es nicht aushalten. Niemand hält es hier länger als eine Woche aus.«
»Ist die Arbeit so schwer?«
»Nein, die Arbeit ist kinderleicht, aber ich mag es nicht, wenn ein Knecht sich ärgert. Bist du oft zornig?«
»Oft nicht, aber manchmal schon.«
»Dann wirst auch du es bei mir nicht aushalten. Sobald du zornig wirst, verlierst du deinen Lohn und wirst auch nie mehr träumen können.«
Hassan hielt den Mann für verrückt. Er lächelte und dachte bei sich: Die Alpträume der letzten Wochenund Tage können mir gestohlen bleiben. Doch er setzte eine ernste Miene auf.
»Wieviel würden Sie mir zahlen?« fragte er.
»Wenn du bei mir arbeitest und dich nicht ärgerst, bekommst du in der Woche ein Goldstück. Das bekommst du am Samstagabend. Wenn du dich aber ärgerst, so bekommst du keinen Groschen und verlierst deine Träume für immer. Willst du trotzdem bei mir arbeiten?«
»Habe ich richtig gehört, daß ich ein Goldstück für die Woche bekomme?«
»Ja, wenn du dich aber …«
»Ich ärgere mich nie«, unterbrach Hassan ihn freudig und betrat das Haus.
Schon am selben Abend erklärte der Schloßherr, was Hassan zu tun habe. Jeden Morgen die dicke Kuh melken, das edle Pferd im Hof zehn Runden am Zügel führen, am Nachmittag den Perserteppich säubern und weiche Kissen darauf legen, den Weihrauch in der kleinen silbernen Schale anzünden und den exotischen Matebrockentee servieren. Das machte er jeden Tag. Die Arbeit war nicht schwer; Hassan wunderte sich jedoch über das große Schloß. Fünfhunderteinundzwanzig Zimmer zählte er. Fünfhundertzwanzig Zimmer durfte er betreten. Ihre Böden waren aus Marmor, die Wände aus Silber und die Decken aus Gold. Nur ein Zimmer war immer verschlossen.
Eine alte Frau erschien jeden Tag vor derMorgendämmerung, putzte bis zum Sonnenuntergang und verließ dann wieder das Haus. Sie war stumm und schwarz gekleidet. Ihr finsterer Blick war Hassan unheimlich. Und wenn sie an die verschlossene Tür kam, so bekreuzigte sie sich und eilte vorbei. Hassan arbeitete eifrig und lächelte von Tag zu Tag zufriedener. Nacht für Nacht lag er in seinem Kämmerlein unter dem Dach und träumte von dem Augenblick, in dem er seiner Mutter stolz das Goldstück überreichen wollte. Damals konnte eine Familie einen ganzen Monat lang von einem Goldstück leben. Freitag abend schwor Hassan bei allem, was ihm teuer und heilig war, daß er sich am nächsten Tag nicht ärgern würde, was immer der Schloßherr auch machen würde. Mit diesem Entschluß hüpfte er am frühen Samstagmorgen aus dem Bett und lief zuerst in die Küche. Er machte wie an jedem Morgen Feuer im Herd und ging pfeifend in den Kuhstall. Dort molk er die Kuh und kehrte mit der Milchkanne in die Küche zurück, wo der Herr bereits auf ihn wartete.
»Einen wunderschönen Morgen wünsche ich Ihnen!« rief Hassan, doch der Schloßherr lächelte nur merkwürdig. »Zeig mal her!« herrschte er seinen Knecht an, riß ihm die große Milchkanne aus der Hand und schaute hinein. »Du hast davon getrunken!« schrie er.
»Aber Herr, ich trinke nie Milch. Sie bekommt mir nicht.«
»Du wagst zu behaupten, daß ich lüge?« brüllte der Schloßherr wild.
»Nie im Leben Herr, ich habe bloß …«, doch Hassan konnte nicht zu Ende reden, denn der zornige Herr leerte die Kanne über seinem Kopf aus. Hassan kochte vor Wut, aber er biß die Zähne zusammen, als der Schloßherr ihn fragte: »Ärgerst du dich?«
»Nein«, antwortete Hassan und wunderte sich über das teuflische Lachen seines Herrn.
»Wenn du dich nicht ärgerst, ist es nur gut für dich. Geh und führe das Pferd aus.«
Hassan ging davon. Er wischte die Milch von seinem Gesicht und kochte innerlich über die Schmach. Draußen war es eiskalt. Seine nassen Kleider klebten an seiner Haut. Hassan zitterte. »Bloß nicht ärgern lassen, bloß nicht …«, murmelte er. Er führte das Pferd am Zügel zehn Runden im großen Hof herum, wie jeden Tag. Seine Finger schmerzten, und seine schlechten Schuhe lösten sich langsam vor Nässe auf, doch
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