Märchen unter dem Wüsenhimmel
ihr den Eindruck, dass Vergangenheitund Gegenwart irgendwie miteinander verschmolzen seien und sie zweihundert Jahre in der Zeit zurückversetzt worden wäre.
Jamal saß im Schneidersitz da, in traditionelle Roben und Kopfschmuck gehüllt. Obwohl sie ihn auf Anhieb erkannte, erschien er ihr wie ein Furcht einflößender Fremder. Ein Schauer der Angst durchlief sie. Um sich abzulenken, betrachtete sie den niedrigen Tisch vor ihm, auf dem Papiere, mehrere Schachteln und ein Schlüsselbund lagen.
„Bitte komm und setz dich zu mir, meine Frau“, sagte er formell.
Während sie sich ihm gegenüber auf ein Polster setzte, entzündete er zwei Stäbchen Weihrauch und stellte sie in winzigen Haltern auf beide Enden des Tisches.
Eindringlich blickte er sie an. „Heute Abend und für immer bist du meine einzige wahre Frau“, rezitierte er. „Heute Abend, vor Gott und der Wüste und all meinen weltlichen Besitztümern, bist du meine einzige wahre Frau. Die Besitzerin meines Herzens und die Mutter meiner noch ungeborenen Kinder. Morgen und jeden Morgen danach, über meinen Tod hinaus und in das Leben danach, bist du meine einzige wahre Frau.“
Heather stockte der Atem. Die Worte hallten in der Stille des Zeltes nach, trieben ihr Tränen in die Augen. Sie erkannte den antiken Wortlaut, lange vor Christi Geburt zum ersten Mal gesprochen, als El Bahar das Land der Nomaden gewesen war und Männer durch Tugend und Stärke regiert hatten. Dieser monumentale Text hatte lange vor dem geschriebenen Wort existiert und war gesprochen worden, wenn ein Mann seinen Harem aufgelöst und auf sein Recht verzichtet hatte, mehr als eine Frau zu haben.
Diese Worte versprachen Treue selbst über den Tod hinaus. Nach diesem Gelübde durfte ein Mann aus El Bahar nie wieder heiraten – selbst dann nicht, wenn seine Frau am nächstenTag verstarb. Vor allem aber versprachen diese kostbaren Worte Liebe.
Sie starrte auf die verstreuten Gegenstände auf dem Tisch. Sie erkannte die Schlüssel für seine zahlreichen Autos, Bankauszüge, Besitzurkunden für Ländereien und Pferde. All das repräsentierte seine weltlichen Besitztümer. Die Schachteln enthielten gewiss die Juwelen, die er aus dem Familienbesitz erhalten hatte.
Lass es wahr sein, betete sie insgeheim. „Warum vollziehst du diese Zeremonie?“
„Weil du meine einzige wahre Frau bist und ich nicht wusste, wie ich es dir auf anderem Wege begreiflich machen sollte.“ Jamals Blick war eindringlich, seine Stimme klang aufrichtig.
Die Tränen, die sie unterdrückt hatte, kullerten über ihre Wangen.
Er stand auf, trat an ihre Seite und setzte sich auf das Kissen neben sie. „Ich werde Frauen nie verstehen. Ich dachte, es würde dich glücklich machen.“
„Das tut es ja auch. Sehr glücklich.“
„Warum weinst du dann?“ Er streichelte ihre Lippen mit seinen. „Schon gut. Ich glaube nicht, dass ich es verstehen würde.“ Er nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. „Du sollst wissen, dass es mir ernst ist. Du bist meine einzige wahre Frau, Heather. Ich liebe dich.“
Aufatmend warf sie sich ihm an den Hals. Er drückte sie hinab auf die Kissen und legte sich dicht neben sie. „Darf ich aus deiner Reaktion schließen, dass du dich darüber freust?“
Sie lachte unter Tränen. „Natürlich.“ Sie senkte den Kopf ein wenig. „Ich liebe dich auch, Jamal.“
„Wirklich? Bist du dir sicher?“
Sie nickte. „Ich liebe dich schon lange. Ich hatte Angst, weil ich dachte, dass du nie eine andere als Yasmin lieben könntest. Deswegen bin ich Honey geworden. Um eine bessere Chancezu haben, dich zu gewinnen. Ich glaube, ich habe dich damals schon geliebt, aber ich habe es nicht erkannt.“
„Meine süße, unschuldige Braut. Wie dumm wir beide doch waren.“ Er strich mit dem Daumen über ihre Lippen. „Eines möchte ich klarstellen. Ich liebe Yasmin nicht. Ich gebe zu, dass ich ganz am Anfang in sie verliebt war, aber es hielt nicht lange an. Sie war keine liebenswerte Person.“
Ihr schien es, als gingen sämtliche Träume in Erfüllung, die sie je gehegt hatte.
„Ich will eigentlich nicht über Yasmin reden, aber ich glaube, dass ich es dir schuldig bin.“
Heather hatte das Gefühl, dass ihr nicht gefallen würde, was er zu sagen hatte. Doch sie zwang sich zu nicken.
Jamal küsste ihre Stirn, drehte sich dann auf den Rücken und blickte hinauf an die Decke. In jeder Ecke des Zeltes hingen Laternen, doch sie verbreiteten nur einen schwachen Schein.
„Yasmin war sehr
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