Märchen von den Hügeln
Ordnung in diese Sachen? Ich werde zurückgehen in die Schule und mich nicht verwirren lassen.« Dabei war sie schon auf dem Weg zum Ufer des Stroms.
Aber sie kam zu spät, die Wiese war leer, nur im Baum saßen beieinander wohl Hunderte von Staren und Stieglitzen und zwitscherten. Sie ging unter die Weide, umfaßte den Stamm und sah hinauf, die Wange an die Rinde gelehnt. Da schien es ihr, als könne sie inmitten des Geflatters und Geschwätzes Bruchstücke einer Melodie vernehmen, pfiffen die kecken Vögel nicht ein Lied? Jetzt verstand sie sogar Texte wie »Ihr klaren Sternen scheint gegen mir« oder »Ihr Augenlider, wenn ihr euch regt«.
»Lehrt er das Federvolk des Himmels, mich zu besingen, so wird seine Untreue so schlimm nicht sein«, flüsterte sie lächelnd, »oder meint er eine andre?«
Eine Schlange streifte ihren Fußknöchel und brachte ihr silbernes Fußkettchen zum Klingen. »Bist du gefährlich oder ungefährlich? Nun, wenn in seiner Gegenwart mir gewiß kein Tier etwas antut, will ich doch vorsichtig sein.«
Behend kletterte sie ins Geäst der Weide und nahm den Platz ein, auf dem er noch vor kurzem träumend gehockt hatte. Die Vögel waren ihr ausgewichen und in den oberen Teil der Baumkrone geflogen, da musizierten und tirilierten sie noch ein Weilchen, erhoben sich dann und schwenkten nach einem Kreis um den Baum zu den Hügeln ab, als seien sie eine einzige schwarze Schwinge.
Wie ihr Liebster, so versank auch sie in Erinnerungen, nur kamen ihr andere Bilder der Gemeinsamkeit.
Gleich Klinger saß auch Leontine leidenschaftlich gern zu Pferde. Ihr Vater, sonst mißtrauisch dem Umgang mit Tieren gegenüber, hatte ihr schließlich dergleichen erlaubt, denn, so meinte er, beim Reiten und bei der Falknerei sei es zumindest doch so, daß das höhere Tier Mensch sich die Kräfte des niederen zunutze mache und sie dirigiere.
Nun gedachte sie des Tages, wo ihr der Liebste das erste Mal erschienen war. Bei einem Ausritt ins Hügelland war sie träumend in eine ihr unbekannte Gegend geraten. Es glühte ein sommerlicher Mittag, die Hitze lag flirrend über der Landschaft, und die Sonnenstrahlen schossen pfeilgleich vom Himmel. Leontine verhielt ihr Pferd, sah sich um und wollte schon kehrtmachen, als sie vom Ende einer Kirschbaumallee das schnelle Klippklapp von Pferdehufen vernahm. Keinen Lidschlag später erschien ein schlanker Reiter auf dem Wiesengrund, dessen Gestalt in der Helligkeit des Mittags nur aus Licht zu bestehen schien. In fliegendem Galopp durchquerte er das Tälchen und tauchte in den tiefen Schatten des Waldes ein, in dem sich auch das Mädchen aufhielt. Seltsamerweise wurde er von den Schatten nicht aufgenommen, sondern kam gerade auf sie zu, wie umgeben von einem Lichtnebel. Leontine gewahrte das lange Haar, das seinen Hals umwehte; er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und summte vor sich hin, und seine Augen, die gleichzeitig freundlich und zerstreut blickten, hätten sie vielleicht gar nicht wahrgenommen, wenn ihr Pferd da zwischen den dunklen Fichten nicht geschnaubt und gescharrt hätte, das andere zu begrüßen. So sah er kurz hinüber, lächelnd, und verschwand im Waldesgrün, umgeben von der ihm eigenen Helligkeit.
Leontine machte kehrt und ritt zurück, langsam seiner Spur folgend; von Zeit zu Zeit unterhielt sich ihr Brauner noch mit dem schnellen Schimmel da vorn, Gewieher klang hin und wieder. Sie aber meinte, die flirrende Mittagshitze habe sie geblendet.
Am gleichen Abend sah sie sein Bild in einer der vielen Zeitungen, die ihr Vater zu lesen pflegte, er war kostümiert in ein lang fallendes Gewand und hielt den Kopf im Nacken, wie auf dem Pferd.
Auf ihre Frage sagte Darenna, ohne weiter hinzusehen: »Den kennst du nicht? Das ist Norman Klinger, unser Nachbar von jenseits des Grundes, dünkt sich groß und ist’s wohl auch.«
Sie war betroffen von dem Bild, vergaß es dann, bis ihrer beider Köpfe sich so unsanft im Musiksalon berührten. Beim Gedanken an diese Stunde mußte sie lachen. »Ach über all die Wunder«, sagte sie, während sie vom Baum stieg, »sein schönes Leuchten und daß er mit den Tieren redet und verwandt ist mit den Wesen von ehedem, und darin so fern! Wäre er doch immer wie da, als wir uns beide an den Kopf faßten in einem ganz irdischen Schmerz und genauso irdisch uns in die Augen sahen! Was mach ich nun? Geh ich zu seinem Haus, um wieder Singsang und Klingklang vorzufinden und nicht ihn selbst? Manchmal denke ich, die siebzehn Jahre
Weitere Kostenlose Bücher