Märchen
Doch Malin bekam an diesem Tage noch etwas geschenkt. Gerade an diesem Tag und gerade dort in der Küche des Pfarrhofs geschah das Wunderbare, daß sie als Herzenstrost etwas Schönes geschenkt bekam. Sie saß am Tisch, löffelte ihre Grütze und ahnte nichts, da drangen durch die angelehnte Tür Worte zu ihr herüber, Worte, so hold, daß sie erbebte. Dort drinnen war jemand, der den Kindern des Pfarrers ein Märchen vorlas, und in all ihrer Holdheit drangen die Worte durch den Türspalt und kamen auch zu Malin. Nie zuvor hatte sie gewußt, daß auch Worte schön sein können, und nun erfuhr sie es, und sie sanken ihr in die Seele wie Morgentau auf eine Sommerwiese. Ach, sie wollte sie in ihrem Herzen bewahren für alle Zeit und nie wieder vergessen, aber schon, als sie mit Pompadulla heimkehrte ins Spittel, waren sie ihr aus dem Gedächtnis entschwunden. Nur ein paar wunderliebliche Worte wußte sie noch, und sie sagte sie leise vor sich hin, wieder und immer wieder.
Klingt meine Linde,
singt meine Nachtigall?
So lauteten die Worte, und in ihrem Glanz schwand alles Elend und aller Jammer des Armenhauses dahin. Warum es so war, wußte sie nicht, doch ein Segen war es, daß es so war.
Und das Leben ging seinen Gang. Bei den Armenhäuslern war kein Ende des Jammerns und Seufzens, da war kein Ende ihres Hungers und ihrer Not und ihres bitteren Wartens. Doch Malin
hatte diese Worte als Herzenstrost, und sie halfen ihr das Leben ertragen. Denn gar viel gab es im Spittel, was schwer war, mit anzusehen und anzuhören.
Da hockte Liebe Güte mit ihren Knäueln, und die langen Stunden des Tages hindurch wickelte sie das Garn des einen Knäuels auf das andere, ohne Unterlaß und niemandem auf der Welt zu Nutzen. Und wenn sie dann an all das Garn dachte, das sie in ihrer Jugend gewickelt und verstrickt hatte, weinte sie still vor sich hin, und Malin sah es...
Klingt meine Linde, singt meine Nachtigall?
Und Jocke Kis ängstigte sich und hörte Stimmen in seinem Kopf und schlug ihn gegen die Wand und flehte die anderen an, den Kopf mit ihm zu tauschen, und da lachten sie alle außer Malin...
Klingt meine Linde, singt meine Nachtigall?
Und wenn der Abend einzog im Armenhaus und keine Kerzen mehr da waren zum Anzünden, dann hockten die Spittler in ihren Betten und starrten in die Dunkelheit und in ihre Erinnerungen hinein, sie murmelten und seufzten, sie stöhnten und ächzten, und Malin hörte es...
Klingt meine Linde, singt meine Nachtigall?
Doch die Zeit ging dahin, und nach und nach genügten Malin die Worte allein nicht mehr, sie wurden zu einem Sehnen, das sie Tag und Nacht begleitete. Und plötzlich wußte sie, wonach sie verlangte. Eine klingende Linde wünschte sie sich, eine singende Nachtigall wollte sie haben, genau wie die Königin im Märchen. Und der Gedanke ließ ihr keine Ruhe mehr, und es kam ihr in den Sinn, sie müsse draußen auf dem Kartoffelacker ein Samenkorn säen und warten, ob daraus nicht eine Linde sproß.
Hätte ich doch nur ein Samenkorn, dachte sie, gewiß bekäme ich dann auch eine Linde. Und hätte ich eine Linde, gewiß bekäme ich dann auch eine Nachtigall. Und hätte ich eine Nachtigall, dann wäre es auch im Spittel schön, dann herrschte auch im Spittel die Freude. Und als sie mit Pompadulla durch den Hag wanderte, da fragte sie:
»Den Samen der Linde, wo findet man den?«
»An den Linden im Herbst«, antwortete Pompadulla.
Aber bis zum Herbst konnte Malin nicht warten. Die Nachtigallen sangen doch im Frühling, und dann klangen auch die Linden, die
Frühlingstage aber rinnen davon wie Wasser, das die Steine umspült. Bekam sie nicht bald ein Samenkorn, dann war es zu spät.
Da erwachte sie eines Morgens in der Frühe vor allen anderen.
Vielleicht waren es die Wanzen, die sie geweckt hatten, vielleicht war es auch die Sonne, die sich durch das Fenster des Spittels stahl.
Während Malin dort lag und sich kratzte, folgte ihr Blick einem Sonnenstrahl bis unter Sommer-Nisses Bett, und da sah sie etwas auf den Dielen liegen, etwas Winziges, Gelbes, Rundes.
Es war nur eine Erbse, die aus Sommer-Nisses zerlumptem Beutel gerollt war, aber es kam Malin in den Sinn, diese Erbse statt eines Samenkorns zu nehmen. Vielleicht ließ Gott in seiner Güte dieses Mal eine Linde aus einer Erbse sprießen.
Mit Glauben und Sehnen wird es gelingen, dachte Malin. Und sie ging hinaus auf den Kartoffelacker und grub dort mit ihren bloßen Händen eine Grube, und da hinein legte sie die Erbse,
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