Maerchenerzaehler
deshalb da waren. Natürlich sagten sie, es wäre Zufall.
Anna sah Abel zusammenzucken, als er im Flur seine Schuhe abstreifte und Magnus’ Stimme oben im Haus hörte, er zuckte zusammen wie ein Hund. Anna legte eine Hand auf seinen Arm. »Bleib«, sagte sie, wie zu einem Hund, und kam sich dumm vor. Sie dachte an den Hund von Bertils Familie, hinten im Volvo, jenen Hund, der exakt so aussah wie das Tier aus Abels Märchen. Sie hörte noch immer sein Winseln im Schneesturm.
»Schön, einmal Besuch zu haben«, sagte Linda. »Ich dachte, wir könnten zusammen zu Mittag essen …«
Abel saß am Tisch wie ein Tier auf dem Sprung. Alles, was er sagte, war destillierte, eiskalte Höflichkeit, und beinahe hätte Anna ihn unter dem Tisch getreten, doch sie ließ es. Micha hatte keine Probleme damit, am Tisch anderer Leute zu sitzen. Sie erzählte Linda alles über die Schule und über ihre Freundin, mit der sie am Mittwoch ein Iglu gebaut hatte, und dass sie später einen sehr großen Hund haben wollte, am besten aber auch ein Pferd, das musste dann in einem Apfelgarten stehen, das war völlig klar.
»Sieh mal an, im Apfelgarten«, sagte Linda, »ja, da gehören Pferde wohl hin, nicht wahr?«
Am Ende des Essens saß Abel ein wenig fester in seinem Stuhl, und seine Augen hatten aufgehört, im Wohnzimmer hin und her zu jagen, als wäre dies eine Falle.
»Und jetzt werft ihr am besten diese Wäsche in die Maschine«, sagte Linda. »Ich glaube, mit einem deiner Pullover habe ich schon Bekanntschaft geschlossen …«
»Und abgesehen von der Wäsche hat Linda noch eine Menge mit ihrem Unikram zu tun«, sagte Magnus und warf Linda einen Blick zu. »Und ich mit einem Berg alter Patientenakten.«
Anna verbiss sich ein Grinsen. Aber lauschen werdet ihr doch, dachte sie, lauscht ihr nur …
»Wir haben auch was zu tun, wir müssen noch eine Geschichte weiterhören«, meinte Micha.
Anna nahm die beiden mit nach oben in ihr Zimmer, wo vor dem Fenster der Schnee hing wie ein weißer Vorhang. Die Rosen an der Gartenmauer waren völlig darunter verschwunden und ein einziges einsames Rotkehlchen wartete auf der Spitze des Vogelhauses auf Magnus.
Sie setzten sich auf den Fußboden, den Rücken ans Bücherregal gelehnt, und sahen den Flocken draußen beim Fallen zu, und Abel sagte: »Ja. Die Geschichte. In der Geschichte beginnen die kleine Königin und ihre Schiffsmannschaft eben jetzt, übers Eis zu gehen.
Das Eis ist glatt und weit, es liegt unter dem Schnee verborgen wie ein geheimer Gedanke.
Nur am Ufer der Insel, wo der Mörder einst gewohnt hat, dort haben die Wellen die Schollen übereinandergetürmt, der geheime Gedanke ist hier zu Splittern zerbrochen und seine Teile haben sich ineinander festgefressen: ein unlösbarer Wirrwarr, ein Rätsel.«
Er legte einen Arm um Micha und einen Arm um Anna, und obwohl es eigentlich unbequem war, ließ Anna den Arm trotzdem dort liegen.
»Sie kamen nur mühsam voran«, fuhr Abel fort. »Immer wieder rutschten sie und schlitterten und manchmal fiel einer von ihnen hin. Als das grüne Schiff hinter ihnen klein geworden war wie ein Spielzeugschiff, blieben sie stehen und sahen einer nach dem anderen durch das Opernglas zurück. Es hatte zu schneien begonnen.
›Sind das dort nicht unsere Verfolger?‹, fragte der Fragende.
›Unter den Buchen, wo im Frühling die Buschwindröschen wachsen‹, antwortete der Antwortende, und es kam dem Rosenmädchen so vor, als hätte sie ihn diese Antwort schon einmal geben hören. Womöglich war sein Repertoire an Antworten begrenzt. Die Antworten auf dieser Welt sind in der Unterzahl, es gibt mehr Fragen, und wenn du mich fragst, warum das so ist, muss ich dir gestehen, dass es auch auf diese Frage keine Antwort gibt.
Die kleine Königin sah, wie ihre Verfolger in diesem Moment bei dem grünen Schiff ankamen. Denn auch das schwarze Schiff war im Eis stecken geblieben und nun waren die dicke Diamantenfresserin und die beiden Hasser ebenfalls zu Fuß unterwegs. Doch da war noch eine weitere Person bei ihnen, eine junge Frau mit blonden Haaren, die sie streng zurückgekämmt hatte wie eine Lehrerin. Sie trug auch die Brille einer Lehrerin.
›Wer ist das?‹, fragte die kleine Königin und hielt das Fernglas vor die goldenen Augen des Hundes.
›Das ist die Juwelierin‹, antwortete er. ›Siehst du das Werkzeug aus ihrer Manteltasche ragen? Sieh dich nur vor, kleine Königin, auch die Juwelierin ist hinter deinem diamantenen Herzen her. Sie
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