Maerchenerzaehler
dabei waren es inflationär viele Strohhalme, Micha hätte ein Dutzend nehmen können, ohne dass es aufgefallen wäre. Die Kittelfrau versuchte jetzt, Micha einen Strohhalm wieder wegzunehmen, doch Micha hielt sie beide fest, ein Luftgefecht entstand über dem Tablett mit der Kakaotasse, Anna schloss die Augen und hörte die Tasse fallen. Sie öffnete die Augen wieder. Auf dem Boden lagen in einer blassen Kakaolache hundert weiße Scherben. Micha stand da, beide Strohhalme in der Hand, und starrte die Kittelfrau mit großen blauen Augen an, voll ungläubigem Entsetzen. Die Leute in der Schlange scharrten mit den Füßen. Die Kittelfrau hob die Hände.
»Das gibt’s doch nicht!«, rief sie. »Wie ungeschickt kann man sein! Himmel! Junge Dame, die Tasse – die Tasse wirst du bezahlen. Guck dir das an, die Scherben! Jetzt kann ich wieder ewig hier sauber machen! Du bezahlst jetzt die Tasse und verschwindest, sonst kommen wir hier gar nicht weiter. Der Kakao und die Tasse, das wären zwei Euro fünfzig, die Tasse kostet eins fünfzig.«
Da begann es aus den entsetzten blauen Augen leise zu regnen. Eine kleine Faust – die ohne Strohhalme – streckte sich vor und öffnete sich, darin lag ein glänzendes Eurostück.
»Ich hab nur das«, sagte Michas Stimme aus dem Regen.
»Du bist doch nicht alleine hier!« Jetzt war die Kittelfrau nurnoch mühsam beherrscht, beinahe schrie sie. »Irgendwo wird es doch einen Erwachsenen geben, der das bezahlen kann!«
»Nein«, sagte Micha, mühsam ihre Tränen schluckend. »Niemand muss das für mich bezahlen. Ich bin ganz alleine. Auf der Klippe. Ganz alleine.«
»Mein Gott, jetzt lassen Sie sie doch in Ruhe! Sie ist ein Kind! Haben Sie denn keine Kinder?«
Anna sah sich nach der Person um, die das gesagt hatte, und merkte, dass sie es selbst gewesen war. Verdammt. Sie hatte sich geschworen, nicht aufzufallen, sich nicht bemerkbar zu machen …
»Ich habe Kinder«, antwortete die Kittelfrau. »Zwei sogar, wenn Sie es wissen wollen. Die sind allerdings erzogen.«
»Sicher«, sagte Anna böse, und jetzt war sie in Fahrt. »Und die haben auch noch nie in ihrem Leben eine Tasse umgestoßen und noch nie zwei Strohhalme haben wollen, und Sie selbst, Sie sind natürlich auch unfehlbar, Ihnen fällt nie etwas herunter, was? Und die Tasse, Madame, ist allerhöchstens zwanzig Cent wert.«
Anna merkte, dass jetzt nicht nur die Kittelfrau, sondern auch Micha sie anstarrte, beide mit offenem Mund. Sie schwamm auf der Woge ihrer Wut, und es fühlte sich gut an, obwohl sie den leisen Verdacht hegte, dass sie es in drei Sekunden bereuen würde.
»Ich bezahle jetzt diesen Kakao und meinen Kaffee und noch einen Kakao«, sagte sie. »Und dann geben Sie mir einen Handfeger, bitte, wir fegen die Scherben schon selber weg. Und demnächst sollten Sie sich erkundigen, ob es an der Volkshochschule Kurse für Freundlichkeit gibt.«
»Sie müssen mich überhaupt nicht so anschreien«, sagte die Kittelfrau in demonstrativer Kränkung, während sie Annas Geld nahm. »Ich habe Ihnen nichts getan.«
Anna sah sich um, sah in die Gesichter der Studenten in der Schlange, ungeduldiger Studenten mit Kaffeetabletts und scharrenden Füßen. Auf einmal war ihr Ausbruch ihr peinlich. Doch da fingen die beiden direkt hinter ihr an zu lachen, auf eine gute, anerkennende Weise, und tatsächlich versuchten beide gleichzeitig, ihr mit dem Handfeger zu helfen.
»Du hast völlig recht«, sagte der eine zu ihr, »die sind unmöglich hier … Da drüben ist noch eine Scherbe …«
»Was studierst du?«, fragte der andere. »Hab dich noch nie hier gesehen …«
»Floristik, drittes Semester«, murmelte Anna, und in ihrem Kopf tauchte der seltsame Gedanke Ich sammle männliche Studenten auf und Gitta würde Augen machen und Ich will sie aber alle gar nicht haben.
Als sie sich aufrichtete, um die Scherben in den Abfall zu kippen, nahm jemand ihr den Handfeger aus der Hand. Es war keiner der Studenten. Es war jemand in einem grünen Militärparka. Abel. Sie sah auf.
»Abel?«, fragte sie mit möglichst viel Verwunderung in der Stimme, sah von Abel zu Micha, die mit ihrem neuen Kakao neben ihm stand und jetzt grinste, und wieder zu Abel. »Die Welt ist zu klein. Bist du … ist das … deine Schwester?«
Einer der Studenten drückte ihr das Kaffeetablett in die Hand. »Nimm es besser jetzt mit«, sagte er. »Sonst rastet unsere Freundin an der Kasse völlig aus.«
Und Anna lächelte ihm ein »Danke« zu und
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