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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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war auf einmal von zu vielen Leuten umringt und dachte: Jetzt bleibe ich an diesen beiden Studenten hängen und Abel geht und vielleicht ist das ja besser so. Doch Abel ging nicht.
    »Das Geld bekommst du wieder«, sagte er. »Danke. Ich habe nicht genau gesehen, was passiert ist …«
    »Ach, irgendeine blöde Geschichte mit Strohhalmen«, sagte Anna. »Vergiss doch das Geld.« Sie sah zu der rosa Jacke hinab. »Dann bist du … bist du Micha?«
    Micha nickte.
    »Geht es deiner Puppe gut?«, erkundigte sich Anna höflich. »Sie hatte sich in unserem Kollegstufenzimmer verlaufen. Unter dem Sofa. Ich habe sie gefunden, durch Zufall.«
    »Frau Margarete«, sagte Micha. »Ja, ich denke, der geht es gut. Sie ist zu Hause, man darf sie nicht in die Schule mitnehmen, und sie will auch in der Mensa immer zu viel Nachtisch essen. Kann ich den Euro behalten, für ein Eis?«
    »Natürlich«, sagte Anna.
    »Auf keinen Fall«, sagte Abel. »Den gibst du jetzt Anna.« Und zu Anna sagte er: »Nimm ihn. Wir sind hier gegen antiautoritäre Erziehung.«
    »Wie?«, fragte Anna verwirrt, und dann gingen sie Micha nach, die wunderbarerweise einen leeren Tisch gefunden hatte, und Abel sagte: »Warum hast du ein Kopftuch um?«
    »Oh, das … äh, ja«, sagte Anna und nahm ihr Halstuch vom Kopf. »Das ist einerseits ein Mützenersatz und andererseits … eine lange Geschichte. Aber sag mal, hast du Gitta hier irgendwo gesehen? Sie ist schon eine Viertelstunde zu spät …«
    Abel sah sich um. Natürlich hatte er Gitta nicht gesehen, und er würde Gitta auch jetzt nicht sehen, denn Gitta hatte niemals vorgehabt, an diesem Nachmittag in die Mensa-Cafete zu kommen.
    »Hm, dann warte ich wohl noch ein bisschen«, sagte Anna. »Hat Micha jetzt genug Strohhalme für ihren Kakao?«
    »Fünf«, sagte Abel und schüttelte den Kopf. »Ich werde ihr sagen, dass man nicht …«
    »Sag ihr, dass man sie verbiegen kann, wenn sie warm sind«, sagte Anna rasch. »Man kann Locken hineindrehen und Figuren basteln. Ach, aber das weiß sie ja sicher.«
    Und damit setzte sie sich auf einen freien Platz an einem Tisch neben dem von Micha, obwohl bei Micha noch eine Menge Platz gewesen wäre. Sie holte ein gelbes Reclamheft aus ihrem Rucksack: der alte Johann W., Faust II , Teil der Pflichtlektüre für Deutsch. Wenn man es als Leistungskurs belegte. Wie sie. Und wie Abel. Sie schlug die winzigen Seiten mit der winzigen Schrift auf und dachte an die winzige Insel mitten im blutig roten Meer. Sie hatte nicht vor, Faust II zu lesen, kein Mensch hatte jemals vorgehabt, Faust II zu lesen. Sie lauschte dem Gespräch am Tisch hinter ihr, genau wie in der Mensa. Irgendwann, dachte Anna, würden ihre Ohren beginnen, sich von selbst nach hinten zu drehen, langsam immer weiter und weiter, vielleicht würden sie so stehen bleiben, und wie sähe das aus …
    »Erzähl weiter«, sagte Micha. »Ich werde eine Klippe aus diesem Strohhalm machen. Die Insel ist doch wieder aufgetaucht, und das Pferd war natürlich noch da und alles, nicht wahr?«
    »Nein«, sagte Abel. »Die kleine Klippenkönigin saß lange auf ihrer Klippe und fror. Irgendwann kam der Morgen. Das Meer war wieder blau. Aber die Sonne, die über dem Meer aufstieg, war eine kalte Wintersonne, und sie wärmte die kleine Königin nicht.
    ›Frau Margarete‹, sagte sie. ›Vielleicht werden wir sterben.‹
    Frau Margarete sagte nichts. Sie hörte immer zu, doch sie sagte nie etwas.
    ›Ich weiß nicht, wie das ist, zu sterben‹, fuhr die kleine Klippenkönigin fort. ›Niemand hat mir den Tod je erklärt. Die Zugvögel nicht und die weiße Stute auch nicht. Ich glaube, sie hatten Angst, davon zu sprechen …‹
    In diesem Augenblick regte sich das Wasser neben der Klippe. Die kleine Klippenkönigin erschrak. Ein dunkler, runder Kopf tauchte aus den Wellen, ein Kopf mit einem Schnauzbart und glänzenden Meeresaugen.
    ›Wer bist du?‹, fragte die kleine Königin. ›Bist du der Tod?‹
    ›Nein‹, sagte das Etwas und lachte ein tiefes Basslachen. ›Der Tod ist viel größer als ich. Ich bin der Seelöwe. Oder sagen wir, ich bin ein Seelöwe. Die anderen sind vor so langer Zeit fortgeschwommen, dass ich mich nicht mehr erinnere, ob es andere gab.‹
    ›Was ist ein Seelöwe?‹, fragte die kleine Königin und beugte sich vor, um den Seelöwen besser betrachten zu können.
    ›Ein Seelöwe ist etwas, das die Tiefen kennt‹, antwortete der Seelöwe. ›Und das viele Meilen schwimmen kann, ohne müde zu

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