Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
sagen!‹
    Da sah die kleine Königin, wie das Rosenmädchen tief Luft holte, und es rief, so laut es konnte: ›Erinnere dich, was die weiße Stute gesagt hat!‹
    ›Die weiße Stute?‹, fragte die kleine Königin. ›Sie hat gesagt, dass ich laufen soll … zur höchsten Klippe … und wenn ich einem Mann begegne, der meinen Namen trägt …‹
    Der Mann im Trainingsanzug hatte die Ärmel hochgerollt bis zu den Oberarmen, und plötzlich sah sie, dass er eine Tätowierung auf dem rechten Oberarm trug. Als er ihren Blick sah, krempelte er den Ärmel rasch herunter, doch sie hatte die Buchstaben dort schon gelesen. Und ihr Herz wurde eiskalt vor Angst.
    ›Wer sind Sie?‹, fragte sie.
    ›Nenne mich Vater‹, antwortete der Mann.
    ›Ich muss jetzt gehen‹, sagte die kleine Königin schnell, und dann sprang sie ins Wasser, um auf das Ufer zuzuschwimmen. Aber das Wasser war eiskalt. Die Wellen, dachte die kleine Königin, sind schön, aber sie sind auch gefährlich … sie werden mich verschlingen …
    Da spürte sie, wie jemand sie aus dem Wasser hob und an Land trug. Es war das Rosenmädchen. Die Rosenranken, die sie kleideten, schienen die Kälte von ihrem Körper fernzuhalten. Sie setzte die kleine Königin am Strand ab und der Leuchtturmwärter schüttelte stumm den Kopf und deutete hinaus zu der Barke. Der Mann darin zog jetzt einen roten Mantel über seine Trainingsjacke. Am rechten Ärmel prangte ein aufgestickter Diamant, gerade über der Stelle, wo der Name der kleinen Königin in die Haut des Mannes tätowiert war. Jetzt wendete er sein Boot und glitt lautlos davon, auf einen Schatten in der Ferne zu, dorthin, woher er gekommen war: zum schwarzen Schiff mit den schwarzen Segeln.
    ›Oh, lass uns hierbleiben!‹, schluchzte die kleine Königin. ›Hier ist der einzig sichere Ort!‹
    ›Wenn du wirklich bleiben willst‹, sagte das Rosenmädchen, ›nimm diese Kette.‹
    Sie legte der kleinen Königin eine Kette aus frischen, blühenden Rosenranken um den Hals. Aber als die kleine Königin den Kopf drehte, ritzten die Dornen ihre Haut, und ihr Blut färbte den Pelzkragen des Mantels rot. Da erschrak die kleine Königin.
    ›Das dachte ich mir‹, sagte das Rosenmädchen und nahm die Kette wieder an sich. ›Geh zurück auf dein Schiff, kleine Königin. Nur die Rosenleute können auf der Roseninsel leben.‹
    Sie begleitete die kleine Königin und den Leuchtturmwärter, der aus lauter Nervosität bereits die dritte Pfeife rauchte, bis zur anderen Seite der Insel, zu dem Steg aus Rosenholz.
    ›Rosenmädchen … woher wusstest du, was die Stute gesagt hat?‹, fragte die kleine Königin.
    ›Der Wind hat ihre Worte hierhergetragen, als deine Insel sank‹, sagte das Rosenmädchen. ›Die anderen haben sie nicht gehört, aber ich hörte sie. Ich hörte das Bersten der Felsen und die letzten Worte deiner weißen Stute. Da wusste ich, dass du in Gefahr warst, und ich hatte Angst um dich, obwohl ich dich nicht kannte … Aber jetzt kenne ich dich. Jetzt habe ich noch mehr Angst um dich.‹
    Sie legte ihre blassen Hände auf die Schultern der kleinen Königin und sah sie lange an. Auf ihrer Nase hatte sie fünf winzige Sommersprossen, die sie von den anderen Rosenleuten unterschieden. ›Ich bin es leid, den ganzen Tag nichts zu sehen als die Rosen und ihre Schönheit‹, flüsterte sie. ›Kann ich nicht mit dir segeln und auf dich aufpassen?‹
    ›Das kannst du‹, sagte die kleine Königin. ›Aber ich weiß nicht, was geschehen wird. Vielleicht werden wir sterben, draußen im blauen Meer.‹
    ›Vielleicht‹, sagte das Rosenmädchen und lächelte.
    Der Leuchtturmwärter half dem Rosenmädchen an Bord. Die kleine Königin half Frau Margarete, die etwas eitel war und sich ein rosa Rosenblatt als Hut aufgesetzt hatte. Aber auf dem Steg stand plötzlich der silbergraue Hund und bellte. Er sprang an der grünen Reling des Schiffs empor und zerbiss die Ranken am rechten Arm des Rosenmädchens. Und die Rosen, die diesen Arm kleideten, verwelkten.
    ›Was soll denn das?‹, rief die kleine Königin ärgerlich. ›Sie hat mir geholfen! Der Jäger mit dem roten Mantel wollte mich in seinem Boot mitnehmen, aber sie hat mich an Land getragen! Du hast es nicht gesehen, weil du auf der anderen Seite der Insel geblieben bist …‹
    Da sprang der silbergraue Hund mit einem ärgerlichen Knurren ins Wasser und blieb verschwunden. Das grüne Schiff jedoch segelte weiter, und beinahe dachte die kleine Königin, sie

Weitere Kostenlose Bücher