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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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besprechen könnten, denn ein bisschen Nachhilfe in Physik könnte sie gut gebrauchen vor der Klausur nächste Woche, und Frauke aus Annas Deutschkurs könnte ebenfalls Nachhilfe gebrauchen – und am Ende trafen sie sich bei Anna, weil das wohnungstechnisch günstiger war.
    »So, Bertil, jetzt bist du wohl der Hahn im Korb, was?«, sagte Gitta, und Bertil grinste. »Wenn die Hennen zu dumm sind, sich selber Mathe und Physik zu erklären«, sagte er, und er erklärte wirklich geschlagene drei Stunden lang. Anna beobachtete, wie er in seiner Rolle als Dozent (und als Hahn) völlig aufging, und sie versuchte, ihm zuzuhören und zu begreifen, was er sagte. Aber das war schwierig. Ihr Kopf war anderswo.
    Abel hatte die ganze restliche Woche über nicht mit ihr gesprochen. Am Mittwoch hatte sie in Deutsch versucht, seinen Blick aufzufangen, denn zur Abwechslung hatte er nicht geschlafen, aber es war ihr nicht gelungen. War das Rosenmädchen von Bord gegangen, auf einer unbekannten und steinigen Insel, auf der es nichts tun konnte, als dem grünen Schiff nachzusehen, bis es irgendwann am Horizont verschwand?
    »Mein Gott, Anna«, sagte Bertil und schüttelte den Kopf, wobei seine Brille wieder rutschte. »Du kapierst es ja wirklich nicht. Musiker sollten doch keine Probleme mit Mathe haben, angeblich liegen die Gebiete im Hirn direkt nebeneinander! Kann es sein, dass du nicht bei der Sache bist?«
    Anna sah den freundlich-nachsichtigen Professorenblick seiner dunklen Augen hinter der Brille, einen Blick, der nicht nur freundlich, sondern auch forschend war, und sie fragte sich, ob er ihr am Dienstag doch gefolgt war.
    »Ich glaube nicht, dass ich Dinge wie Integrale jemals verstehen werde«, sagte sie. »Und ich glaube ehrlich, dass überhaupt noch niemand sie verstanden hat, es tun nur immer alle so. Lass uns eine Pause machen.«
    »Oh ja«, sagte Gitta dankbar. »Freaks wie Bertil kommen drei Stunden ohne Sauerstoff aus, aber ich brauche jetzt welchen. Wer kommt mit in Annas perfekten Garten, zum Rauchen?«
    An der Wand, wo die Rose rankte, war eine zweite Blüte aufgegangen. Auf den Beeten lag Schnee. Gittas Stimme war zu laut für die Rotkehlchen, die tiefer ins Gewirr der Äste flohen.
    Und Anna dachte, frierend in ihrem Pullover: Wenn ich hier mit Abel stünde, würden die Rotkehlchen bleiben. Vielleicht kämen noch mehr. Rotkehlchen aus allen Teilen der Stadt. Sie würden sich auf die Mauer setzen, um seinen Märchenworten zu lauschen …
    Magnus tauchte auf und lieh sich eine Zigarette von Gitta.
    »Na, Bertil«, sagte er, »heute bist du der Hahn im Korb, was?«
    Und alle lachten, weil Bertil diesmal die Augen verdrehte.
    »Was macht ihr eigentlich alle nach dem Abi?«, fragte Magnus.
    »Keine Ahnung«, sagte Gitta. »Meine Mutter will natürlich, dass ich studiere, aber …«
    »Schon blöd, wenn einem gewisse Wege verbaut sind, weil man unbedingt rebellieren will, was?«, sagte Magnus und grinste.
    »Ich fange hier BWL an«, sagte Frauke. Fraukes Eltern hatten damals gegen ihre Eltern rebelliert, Frauke war in einer Bauwagensiedlung geboren und in einer Groß-WG aufgewachsen, und das Rebellischste, was sie je getan hatte, war, nicht rebellisch zu sein und stattdessen ihre Hemden zu bügeln. Anna seufzte und wusste nicht, wieso.
    »Was ist mit dir, Bertil?«, fragte sie, um freundlich zu sein und weil ihr auffiel, dass sie ihn das nie gefragt hatte.
    »Bund«, sagte Bertil knapp und blies einen Rauchkringel in die Luft. All diese Leute und ihre seltsamen Gründe, Dinge zu tun, dachte Anna. Bertil rauchte vermutlich nur, weil niemand von den anderen ihm zutraute, dass er rauchte.
    »Ach, komm, Bertil«, sagte Gitta, »da passt du doch gar nicht hin! Da wirst du totgetreten!«
    »Viel Spaß auch in Afghanistan«, meinte Frauke. »Wie war das? Soldaten sind Mörder …«
    »Tucholsky«, sagte Bertil. »Mal darüber nachgedacht, was er damit gemeint hat? Wach auf, Frauke, das war das ›Dritte Reich‹. Unsere Soldaten heute sind da, um Zivilisten zu verteidigen und die Ordnung aufrechtzuerhalten.«
    »Ach was«, sagte Frauke.
    Magnus drückte seine Zigarette in dem Tonaschenbecher aus, den Anna ihm als kleines Mädchen gebastelt hatte und der ein Vogel sein sollte, aber aussah wie ein Nilpferd. Sie liebte Magnus dafür, dass er ihn immer noch benutzte.
    »Löst ihr nur die Probleme der Welt ohne mich«, sagte er auf dem Weg nach drinnen. »Für solche Diskussionen bin ich zu alt.«
    »Im Ernst«, sagte Gitta.

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