Maerchenerzaehler
Rainer Lierski nicht das Sorgerecht zusprachen, selbst wenn sie Rainer Lierski einsperrten, was unwahrscheinlich war, selbst dann, dachte Anna, während sie sich in ihren Mantel kämpfte, selbst dann würden sie Abel Micha wegnehmen. Und es gäbe keine Märchen mehr und keinen Kakao an der Mole und keine Mensaessen mit gefälschtem Studentenausweis.
Und keine rosa Daunenjacke mehr, die an einem Freitag über einen Schulhof flog, um herumgewirbelt zu werden.
Als sie mit ihren Gedanken so weit gekommen war, saß sie auf ihrem Rad. Es war ein gutes Stück zum Ostseeviertel hinaus. Die Wolgaster Straße erstreckte sich lang und gerade vor ihr wie einefeindliche, ständig weiterwachsende Pflanze. Egal, wie schnell Anna fuhr, die Straße mit ihrem Radweg und ihrem Fußweg und ihren Autos und ihren Verkehrszeichen wurde einfach immer länger und länger. Der Wind fegte ihr vereinzelte magere Schneeflocken ins Gesicht. Sie hatte ihre Handschuhe vergessen, die Schmerzen in ihren Fingern trieben ihr die Tränen in die Augen, bis sie sie schließlich nicht mehr spürte – weder die Schmerzen noch die Finger.
Sie sagte sich den ganzen Weg über, dass nichts passiert war, dass alles in Ordnung war, dass Micha übertrieben hatte, dass alles ein Missverständnis war, dass man einem sechsjährigen Kind nicht alles glauben kann.
Die Plattenbauten der Amundsenstraße lagen verlassen im halbherzigen Schneetreiben. Die untere Tür zum Haus Nummer 18 stand offen. Sie schloss das Rad nicht an, wozu auch, wenn jeder das Schloss knacken konnte. Der Hausflur roch nach einer Mischung aus Bier, Vergangenheit und Erbrochenem. Im Erdgeschoss stand eine übergewichtige Frau mit strähnigem Haar in der offenen Wohnungstür, ein kleines Kind auf dem Arm, und schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren starr und glanzlos, stumpf wie die eines Fisches, sie musterte Anna und versuchte offenbar, herauszufinden, wer sie war. Doch Anna hatte keine Zeit für Erklärungen. Hinter der Frau in der Wohnung schienen sich zwei andere Kinder zu streiten. Frau Ketow, dachte Anna, sie hat drei kleine Kinder, aber es sind nicht ihre … Sie hetzte die Stufen hinauf. Und jetzt?, dröhnte ihr Herzschlag. Und jetzt? Was hast du vor? Du besitzt nichts, womit du dich verteidigen kannst, dich oder jemand anderen … Im dritten Stock blieb sie stehen und lauschte. Aus einer Wohnung weiter unten drang die Stimme eines Radiosprechers, aus einer weiter oben etwas wie Schüsse. Sie zuckte zusammen, die Schüsse wurden von zulauter, seifiger Musik abgelöst, und Anna lachte beinahe: ein Film! Ein Western vielleicht. Sie stieg langsam weiter hinauf. Hinter der Tür bei dem kleinen weißen Klingelschild »Tannatek« war es sehr still. Micha hatte doch von zu Hause aus angerufen? Oder etwa … von Rainer Lierskis Haus aus? Von einem ganz anderen Ort?
Anna atmete ein Mal tief durch. Dann drückte sie auf die Klingel.
Und dann öffnete Abel ihr die Tür.
Er hatte die Faust zum Schlag erhoben und sie duckte sich instinktiv.
»Anna«, sagte er, als wäre sie der letzte Mensch, den er erwartete. »Ich …«
»Ja, ich auch«, sagte Anna, aus lauter Erleichterung völlig zusammenhanglos. »Ist er weg?«
Abel nickte.
»Darf ich reinkommen?«
Er nickte wieder. Anna schloss die Tür hinter sich und knipste das Flurlicht an, und da sah sie, dass an Abels Beinen Micha hing wie eine kleine Klette.
»Du kannst mich wieder loslassen«, sagte Abel. »Micha, hey! Es ist alles in Ordnung! Er ist nicht zurückgekommen, es ist nur Anna! Hey, loslassen! Ich kann so nicht laufen.«
»Na gut«, sagte Micha, und Abel lachte.
Anna sah ihn an. Beinahe wünschte sie, sie hätte das Flurlicht nicht angemacht.
»Scheiße«, sagte sie und schluckte. »Abel.«
Der Flur sah aus wie nach einer Hausdurchsuchung oder einem Bombenangriff oder beidem. Sämtliche Jacken waren von den Haken gerissen und an der einen Seite war die Garderobe mit den Jackenhaken mit aus der Wand gerissen. Dinge lagen über den Boden verstreut: Spielzeug, Geschirr, eine zerbrochene Flasche. Abel stieg über das Durcheinander und führte Anna in die Küche.
»Ich koche Kakao«, sagte er. »Willst du auch eine Tasse?«
»Kakao?«, wiederholte Anna dumpf.
Die Küche sah ähnlich aus wie der Flur. Eine Tür des Hängeschranks über der Spüle war aus den Angeln gerissen, vor dem Fenster lag ein Topf Basilikum, die Pflanze zertreten, die Erde verstreut, und in einer Ecke häuften sich die Splitter, die einmal der Inhalt
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