Maerchenerzaehler
sehen‹, knurrte der silbergraue Hund. ›Damit sie sich nicht festschauen in all den Regenbögen.‹
Die kleine Königin kletterte an Bord des grünen Schiffes und setzte die Katze ab, die sich sofort zusammenrollte und einschlief. Sie suchte die Brille überall, doch sie fand sie nirgends. Als sie unter der letzten Sitzbank suchte, klopfte jemand höflich an die Reling.Sie sah auf, und dort stand ein Mann, ganz in weißen, glitzernden Stoff gekleidet.
›Kommen Sie doch an Bord‹, sagte die kleine Königin. ›Ist es wahr, dass man nur noch Regenbögen sieht, wenn man diesen Stoff trägt?‹
Der Mann antwortete nicht. Er ließ sich auf die Bank fallen.
›Oh, kleine Königin‹, sagte er. ›Ich bin so müde! Ich bin weit, weit übers Meer gegangen, um dich zu sehen.‹
›Um mich zu sehen?‹, fragte die kleine Königin.
Da griff der Mann blitzschnell nach ihrem Arm und zog sie zu sich. Sein Griff war sehr fest und die kleine Königin schrie auf vor Schreck. Erst jetzt sah sie, dass der Mann einen blonden Schnauzbart trug.
›Dein diamantenes Herz ist schöner als alle Regenbögen der Welt‹, flüsterte er. ›Und es gehört mir. Es gehört von Rechts wegen mir. Denn ich habe dich gemacht. Ich bin dein Vater.‹
Der weiße Stoff glitt zu Boden, die kleine Königin sah den blutroten Mantel leuchten, und im nächsten Moment hatte der rote Jäger sie hochgehoben, als wäre sie ein Blatt Papier. Aber mit dem nächsten Schritt trat er auf eine abgefallene Ranke des Rosenmädchens, die Dornen bohrten sich durch die Stiefelsohle in seinen Fuß, er stolperte, fiel und fluchte laut. Als er sich wieder aufrappelte, sah die kleine Königin den silbergrauen Hund über die Insel angerast kommen. Hinter ihm kamen das Rosenmädchen und der Leuchtturmwärter. Der rote Jäger rappelte sich auf. Er hatte die kleine Königin beim Fallen losgelassen und sie floh in die Kajüte und schlug die Tür zu. Dann gab es draußen an Deck einen fürchterlichen Lärm. Dinge fielen, Holz splitterte, sie hörte ein Keuchen aus zwei Kehlen und drückte Frau Margarete an sich.
Schließlich blickte sie durch eine Ritze in der Kajütentür. Da sah sie, wie draußen zwischen umgestürzten Bänken und zerrissenen Segeln zwei Körper über das Deck rollten. Doch es war kein Hund, der dort mit dem roten Jäger kämpfte. Es war ein großer grauer Wolf. Der rote Jäger kam auf die Beine und schwang einen Degen, der gleißende Funken sprühte.
›Oh, mein Seelöwe, mein Hund, mein Wolf!‹, flüsterte die kleine Königin. ›Er wird dich töten!‹
Aber sie konnte nichts tun, sie hatte zu viel Angst. Und sie schämte sich sehr.
Sie sah, dass das Fell des Wolfes an einigen Stellen dunkel war von seinem Blut. Dann fiel er. Und dann lag er am Boden, ganz still. Der rote Jäger steckte den Degen ein. Er gab dem Wolf einen letzten Tritt mit seinem Stiefel und stieg über ihn hinweg, um zur Reling zu gehen und die Hände daraufzulegen, zufrieden lächelnd.
›Dies könnte mein Schiff sein‹, sagte er. ›Aber ich werde es nicht segeln. Es ist zu grün. Nur das Herz der kleinen Königin werde ich mitnehmen. Ich werde es ihr mit meinem Degen aus der Brust schneiden …‹
Die kleine Königin wollte weinen. Jetzt, dachte sie, sterbe ich doch, und ich weiß immer noch nichts über den Tod. Da geschah etwas Unerwartetes. Der große graue Wolf regte sich wieder. Er stand leise auf und schlich sich von hinten an den roten Jäger heran. Als er ganz nahe war, erhob er sich auf zwei Beine und legte die Pfoten zu beiden Seiten des Jägers auf die Reling. Der rote Jäger drehte den Kopf. In seinen Augen stand Verwunderung, keine Angst. Dann biss der Wolf ihm mit seinen blitzenden Reißzähnen die Kehle durch.
Die kleine Königin schlug die Hände vors Gesicht. So saß sie imDunkeln, bis das Rosenmädchen die Kajütentür öffnete und sie in die Arme nahm.
›Kleine Königin‹, flüsterte sie. ›Der rote Jäger ist tot! Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Wir haben uns an Land in den Falten des Stoffes versteckt … Was ist geschehen?‹
›Ich weiß es nicht‹, antwortete die kleine Königin leise. ›Ich war die ganze Zeit über hier.‹
Draußen an Deck blinzelte ihnen träge die weiße Katze entgegen. Sie hatte die ganze Zeit über geschlafen. Der Leuchtturmwärter zog die wenigen Segel auf, die noch heil waren, und sie fuhren weiter. Nach einer Weile reckte der Seelöwe seinen Kopf aus einer Welle.
›Kleine Königin!‹, sagte er. ›Das
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