Maerchenerzaehler
»Willst du zum Bund? Du kannst niemals auf jemanden schießen.«
»Das heißt doch nicht, dass er auf Leute schießt, Gitta«, sagte Anna.
Aber Bertil ignorierte sie. »Könntest du ?«, fragte er mit einem gewissen lauernden Unterton. »Könntest du eine Waffe auf einen Menschen richten?«
»Natürlich nicht«, sagte Frauke. »Und du auch nicht.«
»Ach, ich weiß nicht«, sagte Bertil und sah in eine Ferne, die es in dem Hinterhofgarten überhaupt nicht gab. »Wenn ich jemandem gegenüberstünde, den ich wahnsinnig hasse … der mich rasend macht … wenn ich Gründe habe, ihn zu hassen … oder sie … es ist vermutlich ein Kick, abzudrücken.«
»Das hat jetzt mit dem Bund nichts mehr zu tun«, sagte Anna unbehaglich.
Bertil sah sie an. Seine Brille rutschte nicht mehr.
»Ich kann schießen«, sagte er, »auch wenn ihr das nicht glaubt. Ich bin gar nicht schlecht.«
»Du spinnst«, sagte Gitta, »woher willst du denn schießen können?«
»Mein Vater jagt«, sagte Bertil. »Er hat ein Revier draußen in Eldena. Bei euch um die Ecke. Wenn ich das Abi habe, mach ich den Jagdschein auch. Ich war oft mit ihm draußen … es ist nicht so schlecht, wie ihr denkt. Das Wild, das da geschossen wird, merkt nichts. Weiß nichts, versteht nichts, ist einfach plötzlich nicht mehr da, ohne überhaupt Angst zu haben. Besser als die Viecher im Schlachthaus, die vorher ihre Artgenossen schreien hören.«
»Bertil«, sagte Gitta. »Hör auf. Das ist ekelhaft. Über so was will ich gar nicht nachdenken. Warum reden wir jetzt von Schlachthäusern und vom Tod?«
Die Luft im Garten war gar nicht mehr so blau wie sonst. Etwas Rötliches hatte sich hineingemischt. Bertil versucht, größer auszusehen, dachte Anna – und er wird dabei kleiner, ohne es zu merken.
»Über den Tod sollte man schon manchmal nachdenken«, sagte Bertil. »Die meisten Leute denken viel zu wenig darüber nach. Und dann, wenn sie sterben, ist es zu spät. Dann haben sie keine Zeit mehr zum Nachdenken … Habt ihr schon mal jemanden sterben sehen?«
»Nein«, sagte Anna. Die beiden anderen schüttelten die Köpfe.
»Du?«, fragte Frauke.
Bertil nickte. »Unseren Hund. Ein eigener Hund, das ist fast so wie ein Mensch. Wir hatten ihn von klein auf. Am Anfang war er friedlich, aber zum Schluss ist er zu scharf geworden. Liegt der Rasse im Blut. Egal, wie man sie erzieht. Er dachte, er müsste seine Familie schützen … uns … er hat auf einem Spaziergang einen Jogger angefallen. Wenn mein Vater nicht dazwischengegangen wäre, hätte er ihn totgebissen. So was geht nicht. Wenn es ein Kind gewesen wäre … Mein Vater hat den Hund erschossen, bei uns im Hof.«
Sie schwiegen eine Weile. Sie schwiegen so sehr, dass die Rotkehlchen zurückkehrten.
»Ich habe seine Augen gesehen«, sagte Bertil. »Als er starb. Sie waren golden. Er hat begriffen, dass er stirbt. Ganz zuletzt, als er da lag, hat er es begriffen.«
»Golden«, murmelte Anna. »Ein Hund mit goldenen Augen.«
»Weimaraner«, sagte Bertil. »Silberfell und Goldaugen. Schöne Tiere. Manche haben auch blaue Augen …«
»Lass uns weitermachen mit Mathe«, sagte Frauke. »Es ist verdammt kalt hier draußen.«
»Und bei der nächsten Raucherpause reden wir nicht vom Tod, sondern vom Gegenteil«, sagte Gitta auf der Treppe nach oben mit etwas angestrengter Fröhlichkeit. »Vom Beginn des Lebens.«
»Gitta?«, fragte Frauke. »Hast du jetzt beschlossen, Hebamme zu werden? Ich meine, worum geht es in der nächsten Pause? Geburtstechniken?«
»Quatsch«, sagte Gitta. »Sex.«
Später, in der Dämmerung, standen sie vor dem Haus und sprachen nur noch von Belanglosem. Bertil war der Erste, der losfuhr. Er hatte das Auto seiner Eltern geliehen, er war schon seit einer Weile achtzehn und im Gegensatz zu Gitta von Haus aus mit dem nötigen Geld für einen Führerschein ausgestattet worden.
»Gitta hat recht, so ein Freak!«, sagte Frauke noch einmal. »Was war das mit dem Schießen denn jetzt wieder für eine Geschichte? Ist Bertil Hagemann ganz anders, als wir denken?«
»Bertil Hagemann ist einfach nicht besonders gerne Bertil Hagemann«, sagte Gitta sachlich. »Der hat sich bloß aufgespielt. Und er ist auf der dringenden Suche nach einer Freundin.« Sie sah Anna von der Seite an. »Sieh der Tatsache ins Auge, mein Kind. Den wirst du so schnell nicht los. Aber Anna hat ja jetzt einen Studenten.«
»Ich habe überhaupt keinen Studenten«, sagte Anna und beglückwünschte sich zu
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