Maerchenerzaehler
eines halben Geschirrschranks gewesen waren. Das Wort »wüten«, dachte Anna, bekam hier eine ganz neue Dimension. Und in all dem Chaos stand Abel und rührte seelenruhig in einem Topf auf dem Herd. Aber »seelenruhig« war das verkehrte Wort, denn seine Hand zitterte.
Abel sah nicht besser aus als die Wohnung. Sein linkes Auge begann zuzuschwellen, und die rechte Schläfe war voller Blut, als wäre er vom Fahrrad auf einen Kiesweg gefallen. Oder vielleicht eher von einem fahrenden Auto aus.
»Was …?«, begann Anna.
Abel zeigte auf den Scherbenhaufen in der Ecke. »Es gibt Leute, die stürzen sehr ungeschickt in Scherben.«
»Ich hoffe, du bist nicht alleine gestürzt?«
»Oh nein«, sagte Abel mit einer gewissen Zufriedenheit in der Stimme und rührte die Milch im Topf um. »Glaub mir, es gibt jemanden, den es genauso schlimm erwischt hat.«
Sie merkte, dass er mit der linken Hand rührte. Als er die Tür geöffnet hatte, hatte er die linke Hand zum Schlag erhoben. Er hielt die rechte seltsam.
»Micha«, sagte er, »ihr könntet ein bisschen im Wohnzimmer aufräumen, was meinst du?«
Micha fasste Anna am Ärmel und zog sie ins Wohnzimmer, wo die beiden schäbigen, alten Sessel und das Sofa umgekippt waren und es Bücher auf den Boden geschneit hatte. Sie richteten die Sessel schweigend wieder auf und stellten schweigend die Bücher in die Regale. Anna fand dazwischen mehrere Packungen Tabletten, die höchstwahrscheinlich keine Kopfschmerztabletten waren. Die hatte der, der hier gewütet hatte, jedenfalls nicht gesucht. Sie hängten auch die Jacken im Flur auf, und Micha sagte leise: »Er ist einfach reingekommen, weißt du? Der Jäger mit dem roten Mantel. Ich wollte nett zu ihm sein, weil er dann vielleicht wieder weggeht. Und irgendwie tat er mir auch leid … er ist doch so einsam. Abel war runtergegangen zum Einkaufen … wir haben nur geredet, auf dem Sofa, und er hat wieder gesagt, ich könnte bei ihm wohnen, und dann kam Abel nach Hause und hat gesagt, der Mann mit der Tätowierung soll gehen … und er wollte nicht gehen, und sie haben angefangen herumzuschreien und dann haben sie sich gekloppt … und der Jäger mit dem roten Mantel hat Dinge kaputt gemacht, er hat die Schränke aufgerissen und … und gesagt, es ist sowieso alles kaputt in dieser Wohnung, schrottreif, hat er gesagt … Es ist meine Schuld, oder? Es ist alles meine Schuld. Abel ist sauer auf mich. Ich hätte ihn nicht reinlassen dürfen …«
»Wein doch nicht«, sagte Anna und nahm Micha in die Arme, mitten auf dem Boden des verwüsteten Flurs. »Ach was, wein ruhig. Es ist nicht deine Schuld, Micha. Und Abel ist auch nicht sauer auf dich. Bestimmt nicht. Er ist sauer auf deinen Vater. Abel will dich nur beschützen.«
»Braucht er nicht«, sagte Micha und zog die Nase hoch. »Ich kann mich selber beschützen.«
»Ja«, sagte Anna. »Nein.«
»Und vor was überhaupt?«, fragte Micha und wischte sich die Nase an ihrem Ärmel ab.
»Das weißt du doch«, antwortete Anna ernst. »Er will dein Herz aus Diamant.«
Fünf Minuten später saßen sie zu dritt um den Wohnzimmertisch, dem jetzt ein Bein fehlte, und tranken Kakao aus Saftgläsern, weil es keine heilen Tassen mehr gab.
»Abel«, begann Anna. »Wir müssen etwas mit dieser Wunde tun. In deinem Gesicht. Ich kann mindestens drei Splitter sehen. Wir …«
»Später«, sagte Abel.
»Aber das ist wichtiger als Kakao …«
»Nein«, sagte Abel, und Anna nickte, denn seine Augen ließen keinen Widerspruch zu.
»Jetzt ist wichtig, dass alles wieder ruhig und normal wird«, sagte er. »Und deshalb erzähle ich euch ein Drei-Minuten-Stück des Märchens.« Micha streckte sich auf dem Sofa aus, völlig erschöpft vom Angsthaben und Sichaufregen und Heulen und Erleichtertsein. Sie legte ihren Kopf auf Abels Knie, und Anna erinnerte sich, wie sie selbst so gelegen hatte, als kleines Mädchen, den Kopf auf dem Knie ihrer Mutter, die ihr ein Buch vorlas.
»Weißt du noch, gestern, die weiße Katze?«, fragte Abel. »Als wir am Hafen spazieren gegangen sind? Die blinde weiße Katze, die du mit nach Hause nehmen wolltest?«
»Ja«, flüsterte Micha und gähnte, »sie war völlig dreckig und zerzaust, aber sie wollte sich nicht streicheln lassen. Ich weiß es noch genau.«
»Gut«, sagte Abel.
»Das grüne Schiff fuhr lange durch die kalten Wogen und sie wurden täglich kälter. Der Wind brachte jetzt Schnee mit sich, richtigen Schnee.
›Deine Rosen beginnen schon zu
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