Maerchenerzaehler
ihrem ärgerlichen Tonfall. »Ich habe lediglich ein Mal mit ihm Kaffee getrunken. In der Mensa-Cafete.«
Das war nur fast gelogen.
»Ach, wie süß!«, sagte Frauke. »Er hat dich zum Kaffee eingeladen?« Sie seufzte. »Man sollte weniger über Mathe und Physik und den Tod nachdenken«, sagte sie, »und sich stattdessen mal wiederverlieben. Man kann sich natürlich Hennes von Biederitz dafür aussuchen … wie alle ... aber das ist irgendwie einfallslos.«
Gitta räusperte sich.
»Neulich habe ich gedacht, man könnte sich ganz experimentell verlieben«, meinte Frauke verträumt. »In jemand völlig Abstrusen. André, zum Beispiel.«
»Wer ist André?«, fragten Gitta und Anna gleichzeitig.
»Der Pole«, antwortete Frauke. »Unser Kurzwarenhändler mit den hübschen bunten Tabletten. Heißt der nicht André mit Vornamen?«
Anna biss sich auf die Zunge.
»Ich habe ein bisschen Angst vor ihm«, wisperte Frauke und schüttelte sich mit einem wohligen Geisterbahnschauer. »Aber vielleicht ist das ja so einer – harte Schale, weicher Kern, ihr wisst schon. Wenn er nicht diese komischen Polenmarktklamotten anhätte … eigentlich ist das ein ziemlich hübscher Kerl.«
Anna merkte, wie ihr übel wurde bei diesem Gespräch. In ihrem Unterbewusstsein tauchten Worte wie »Bravo« und »Zuckerwatte« und »Süßstoff« auf. Sie war Gitta dankbar, als sie auf ihr Moped stieg und den Helm aufsetzte. Aber noch fuhr Gitta nicht los.
»Lass es, Frauke«, sagte sie. »Ich habe da schon jemandem abgeraten. Ich weiß ein paar Dinge über unseren polnischen Freund, die ihr nicht wisst.«
»Was denn?«, fragte Frauke.
Gitta zuckte die Achseln. »Nicht jugendfrei«, sagte sie und zwinkerte, und Anna war sich sicher, dass sie sich wieder etwas ausdachte, wie schon früher als Kind.
»Ein Mann mit einem Geheimnis«, flüsterte Frauke. »Und so schönen blauen Augen. Süß! «
»Herzlichen Glückwunsch zum vierzehnten Geburtstag, Frauke«, sagte Anna.
Und in diesem Moment kam der Anruf.
Anna sah noch, wie Gitta auf ihrem Moped davondröhnte und Frauke auf ihr Rad stieg, dann ging sie mit dem Handy ins Haus. Zuerst verstand sie nicht, wer mit ihr sprach. Die Verbindung war schlecht. Es war eine Frau – oder ein Kind. Die Frau oder das Kind hatte Angst.
»Anna?«, fragte sie,. »Anna, bist du das?«
Ein Kind. Es war Micha. Anna hatte keine Ahnung, wie Micha an ihre Handynummer kam, aber das schien völlig nebensächlich. Sie setzte sich auf einen der geschnitzten Stühle im Flur und hielt sich mit dem Zeigefinger das andere Ohr zu, um mehr zu verstehen.
»Micha?«, rief sie. »Micha, bist du das?«
»Ja«, sagte Micha. »Ich …« Sie schien das Telefon nicht richtig zu halten, da waren eine Menge Störgeräusche. Etwas schien in der Nähe umzufallen oder zu zerbrechen. Die Insel, dachte Anna. Die Insel sinkt. »Micha, ich verstehe dich nicht!«, rief Anna. »Noch mal! Lauter!«
»… nicht, was ich machen soll«, sagte Michas Stimme, und jetzt war sie deutlicher. »Ich hab die Tür vom Bad zugeschlossen mit dem Schlüssel. Sie kloppen sich, Anna. Ich kann sie hören. Frau Margarete ist im Wohnzimmer, aber sie kann ja auch nichts machen …«
»Wer kloppt sich?«, fragte Anna. »Micha, ganz langsam. Wo bist du?«
»Im Bad«, wiederholte Micha. »Ich muss ihm helfen, aber ich habe Angst, ich kann nicht, Anna … am Spiegel ist ein Zettel, da steht ANNA und NOTFALL und die Nummer und …«
»Was?«, fragte Anna und dachte: Dies ist nicht der Moment, sich zu freuen. Aber sie konnte nicht anders. Micha heulte jetzt, Anna konnte es hören. Sie hörte auch noch mehr Dinge zerbrechen oder umfallen oder ins Meer stürzen. Sie machte einen letzten Versuch.
»Micha, wer ist bei euch? Ist deine Mutter zurückgekommen?«
»Nein«, schluchzte Micha. »Ist sie nicht, und sie kommt nie, sie ist weg und kommt nie wieder, und er hat gesagt, ich soll jetzt doch bei ihm wohnen, er hat gar keinen roten Mantel, aber trotzdem … Anna …«
»Ich komme«, sagte Anna.
Sie spielte einen Moment mit dem Gedanken, die Polizei anzurufen. Aber am Spiegel in Michas und Abels Bad stand nicht NOTFALL und die Nummer der Polizei, dort stand NOTFALL und ANNA und Annas Nummer, und das stand sicher nicht dort, weil Abel glaubte, dass Anna ihm die Polizei auf den Hals hetzte. Die Polizei würde Fragen stellen, Fragen nach Michelle Tannatek, Fragen danach, wer sich um Micha kümmerte, und Fragen nach dem Sorgerecht. Und selbst wenn sie
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