Maerchenerzaehler
schwarze Schiff hängt noch immer am Horizont! Es gibt noch mehr Jäger dort, noch mehr gierige Hände. Vergiss das nie.‹
Damit tauchte er hinunter ins tiefe Wasser. Er hinterließ eine rote Spur.«
Abel fuhr Micha durchs Haar. Sie schlief fest. »Ich habe gar nicht gemerkt, wie sie eingeschlafen ist«, flüsterte Abel. »Wie lange schläft sie wohl schon?«
»Ungefähr seit den Regenbögen«, antwortete Anna.
Abel seufzte. »Ich werde die ganze Geschichte noch einmal erzählen müssen.«
»Ja«, sagte Anna leise. »Ja, tu das. Vielleicht in einer anderen Version. Ohne Blut und Reißzähne und das Herausschneiden von Herzen. Erzähl … erzähl ihr eine Version, bei der sie nicht durch die Türritze sieht.«
Abel nickte. »Aber das Rosenmädchen hat unrecht«, flüsterte er. »Es ist falsch, keine Angst zu haben.«
»Abel …«, begann Anna. »Du … du hast ihn doch nicht umgebracht? Rainer?«
Er sah auf. Seine Augen waren so dunkel, dass man sie kaum mehr blau nennen konnte. Eine Sorte von Blau bei Nacht.
»Nein«, sagte er. »Ich wünschte, ich hätte es.«
Er stand auf und hob Micha behutsam hoch, um sie ins Bett zu tragen. Sie sah beinahe tot aus, wie sie da auf seinen Armen hing. Beinahe so, als hätte jemand ihr Herz mit einem Degen herausgeschnitten und nur ihren Körper hier in der Wohnung liegen lassen. Aber ihr Herz träumte nur, dachte Anna, um sich selbst zu beruhigen, es träumte von Regenbögen.
Anna fegte die Scherben in der Küche zusammen, während Abel die schlafende Micha in ihren Schlafanzug steckte. Sie hörte ihn mit irgendeinem Ärmel kämpfen und schimpfen, auf die Art, auf die ein Vater eben mit einem Ärmel schimpft, fröhlich und ohne wirklichen Ärger in der Stimme. Sie schüttelte den Kopf. Nichts hier passte zusammen.
»Und jetzt tun wir etwas mit dieser Wunde«, sagte sie, als Abel die Tür zu Michas Zimmer leise schloss. »Hast du eine Pinzette? Irgendwas zum Desinfizieren?«
»Warte im Wohnzimmer«, meinte Abel.
Doch sie ging ihm nach, stand in der Tür des winzigen Bades und sah zu, wie er einen Pappkarton ganz oben vom Schrank holte, ihn auf die Waschmaschine stellte, die beinahe das ganze Bad ausfüllte, und in dem Karton zu wühlen anfing.
»Wir können auch irgendwelchen anderen Alkohol …«, begann sie, und Abel fuhr herum.
»Hatte ich nicht gesagt, du sollst im Wohnzimmer warten?« Erhatte nicht gemerkt, dass sie ihm gefolgt war. Plötzlich klang er wieder ärgerlich, unpassend ärgerlich.
Anna trat einen Schritt zurück, aus dem Bad in den Flur. »Falls du nicht willst, dass ich meine Telefonnummer am Spiegel sehe«, sagte sie mit einem Lächeln, »ich weiß, dass sie dort steht. Sonst hätte Micha mich nicht anrufen können.«
Er schob sie sanft in Richtung Wohnzimmer und schloss die Tür zum Bad.
»Ja«, sagte er. »Das war mir auch … etwas … peinlich. Aber es ist einfach eine fürchterliche Unordnung bei uns. Hier.«
Er drückte Anna eine Pinzette und eine alte Flasche Desinfektionsmittel in die Hand.
»Was hast du vor?«
»Ich dachte, ich trinke das Desinfektionsmittel und stecke mir die Pinzette in die Nase«, sagte Anna. »Was dachtest du denn? Setz dich hin. Die Scherben können nicht in dieser Wunde bleiben.« Sie merkte, dass sie klang wie Magnus, wenn er mit seinen Patienten sprach.
Die Patienten sagten dann: »Ja, Herr Doktor Leemann«, und »Tun Sie, was Sie für richtig halten, Herr Doktor Leemann«.
Abel griff nach der Pinzette und sagte: »Ich kann das selbst. Wir sind durchaus im Besitz eines Spiegels. Du solltest jetzt gehen. Tut mir leid mit der Nummer … sie hätte dich nicht anrufen sollen.«
»Abel«, sagte Anna und stählte das Stück Magnus in sich. »Setz dich aufs Sofa.«
»Es ist spät, Anna … Sie warten auf dich, in dem Haus, wo es nur blaue Luft gibt … sie werden sich Sorgen machen.«
»Es ist nicht spät. Ich rufe nachher an. Setz dich aufs Sofa.«
Er hob hilflos die Hände und setzte sich. Anna setzte sich neben ihn, rückte die Stehlampe näher, die wie durch ein Wunder heil geblieben war, und sah sich die Wunde an Abels Schläfe an. Sie begriff nicht, wie Geschirr in so viele winzige Scherben zerbrechen konnte. Vielleicht, wenn man hineingestoßen wurde. Mehrmals. Sie begann, die Scherben mit der Pinzette aus der Haut zu sammeln, eine nach der anderen, ihre linke Hand füllte sich mit der Vergangenheit von Geschirr, mit der Geschichte einer Küche, mit Abels und Michas Geschichte. Er hatte die
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