Maerchenerzaehler
Leiche unter dem Schnee, als er in sein Auto steigen wollte. Stellt euch vor, ich steige jetzt in mein Auto und finde eine Leiche unter dem Schnee! Brr!«
»Du fährst gewöhnlich mit dem Rad zur Praxis«, sagte Linda.
»Ja, und jetzt weiß ich auch, warum«, meinte Magnus fröhlich. »Beim Autofahren stößt man nur auf Leichen. Der Besitzer der Kneipe berichtete, dass das Opfer in letzter Zeit häufiger da gewesen sei. ›Hat oft Streit gegeben‹, so Mirko S. – Klammer: zweiundfünfzig –, was will die OZ eigentlich immer mit diesen Altersangaben? ›Der Rainer hat gern mal diskutiert, da ging es schon ordentlich zur Sache, aber dass es so endet, hätte ich nicht gedacht.‹ Als es am Samstagabend zu Handgreiflichkeiten kam, sagt Mirko S., hätte er Rainer L. und seine drei Freunde vor die Tür gesetzt. Bei Kneipenschluss hätte er angenommen, Rainer L. wäre inzwischen nach Hause gegangen, genau wie die anderen. Die Polizei sucht nun nach den drei Männern im Alter von fünfundzwanzig bis fünfzig Jahren. Außerdem werden Zeugen gesucht, die in der Zeit von zehn bis zwölf Uhr in der Nähe des › Admiral ‹ waren … Denkt euch, über das Alter der Zeugen, die sie suchen, gibt es keine Angabe, ist das nicht erstaunlich?«
»Magnus«, sagte Linda. »Das ist nicht lustig.«
»Nein, entschuldige«, sagte Magnus. »Anna? Ist alles in Ordnung?«
Anna nickte. Sie umklammerte ihre Teetasse mit beiden Händen und sah dort Michas Hände, die um eine Kakaotasse lagen, Abels Hände und ein Glas Wodka. Abels geschwollenes rechtes Handgelenk. Die winzigen Schnitte in Abels Gesicht. Die Splitter. Sie schloss für einen Moment die Augen. Wenn er Micha anfasst, bringe ich ihn um. Hatte er das getan? War er einer der drei im Admiral gewesen? Oder war er einfach nur dort gewesen, zur richtigen Zeit, um Rainer Lierski abzufangen? Sie öffnete die Augen wieder. Ihr war leicht schwindelig. Für einen Moment wünschte sie, ihre Eltern würden sich in Nebel auflösen, sie säße völlig allein am Tisch, wäre völlig allein zu Hause – sie hätte die Zeitung genommen und alles noch einmal gelesen, sie hätte ihr Müsli stehen lassen und einen sehr starken Kaffee gemacht, nein, sie hätte den Whiskey vom Regal geholt, sie wäre in der Küche auf und ab gegangen und hätte versucht, ihre Gedanken zu ordnen …
»Es ist alles in Ordnung«, sagte sie und zwang sich, die Müslischale leer zu essen.
»Der Artikel … ich dachte nur gerade nach … der Artikel … das passt zu einer Sache, die wir gerade in Deutsch diskutieren … kann ich die Zeitung mitnehmen?«
Magnus faltete sie und reichte sie ihr über den Tisch.
»Diskutiert nicht zu heftig«, sagte er, »das kann tödlich enden. Gibt es einen Zusammenhang mit irgendetwas, was ihr gerade lest?«
» Faust «, sagte Anna, und Linda schüttelte verwirrt den Kopf.
»Wo ist er?«
»Faust?«
»Nein, der Zusammenhang? Zwischen dem Mann, den sie da tot geschlagen haben, und Faust ?«
»Blocksberg«, antwortete Anna knapp und völlig sinnlos. »Ich muss los.«
Der Deutschkurs ging vollkommen spurlos an ihr vorüber. Sie sah, wie der Knaake den Mund öffnete und schloss, doch sie hörte nicht, was er sagte. Sie dachte, dass es ein Montag gewesen war, an dem sie zuerst über Abel Tannatek nachgedacht hatte, die ersten beiden Stunden Deutsch an einem Montag. Es schien sehr lange her. Abel schlief an diesem Morgen nicht. Anna sah, wie die anderen sein Gesicht betrachteten. Das blaue Auge und die Schürfwunde an der Schläfe, tausend winzige, einzelne Wunden, ein Schotterfeld aus dunklem Schorf. Er ließ sich beim Zusammenpacken Zeit, ließ die anderen vorausgehen wie immer, und sie wartete nach dem Deutschkurs auf ihn. Sie sagte Frauke, sie müsste noch etwas mit dem Knaake besprechen.
Der Knaake begriff, dass sie nichts mit ihm besprechen musste.
Er sah von Abel zu Anna und zurück, er sah, dass irgendetwas gesagt werden musste, und meinte mit einem Schulterzucken, er bräuchte dringend einen Kaffee, er ließe den Kursraum offen und käme später wieder.
Anna breitete die Zeitung auf dem Tisch aus und deutete auf den Artikel . Streit in Kneipe endet tödlich. Rainer L. (41) … Abel stützte beide Hände links und rechts der Zeitung auf den Tisch und las, ohne Anna anzusehen. Ein großer grauer Wolf, dachte sie, der die Pfoten links und rechts seines Opfers auf eine Schiffsreling stützt und ihm von hinten mit einem einzigen Biss die Kehle durchbeißt.
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