Maerchenerzaehler
Zähne zusammengebissen und fluchte ab und zu leise.
»Halt still«, sagte Anna. »Weißt du, dass du verdammt Glück hattest mit deinem Auge?«
»Ich kenne noch jemanden, der verdammt Glück hatte«, sagte Abel. »Rainer Lierski. Er hatte verdammt Glück, dass er hier auf zwei Beinen rausgegangen ist.«
Dann schwieg er lange, während Anna Scherben sammelte. Es schien eine Aufgabe für die Ewigkeit zu sein, sie gewöhnte sich daran wie an Fließbandarbeit, so sehr, dass sie plötzlich merkte, wie nah sie Abel war. Unglaublich, waghalsig nah.
Sie lächelte. »Warum hast du manchmal einen Drei-Millimeter-Haarschnitt?«, fragte sie, um etwas Sachliches zu fragen.
»Die Haarschneidemaschine kann nur drei Millimeter«, sagte Abel. »Sie ist alt. Ich gebe kein Geld für Friseure aus.«
»Das ist alles?«
»Das ist alles. Und außerdem wird man in Ruhe gelassen, hier draußen, mit einem Drei-Millimeter-Haarschnitt. Und mit einem Böhse-Onkelz-Pullover. Ich kann keinen Ärger gebrauchen.«
»Aber … politisch … du bist nicht … wie die anderen hier?«
»Rechts?«, fragte Abel und lachte. »Ich bin nicht blöd.«
»Und … die weißen Katzen«, sagte Anna. »Der Stoff der weißen Katzen … die Regenbögen …«
»Heute ist der Tag der Fragen«, sagte Abel. »Aber bei Anna Leemann ist immer der Tag der Fragen, nicht wahr? Du willst alles wissen.«
»Ja«, sagte Anna. »Alles. Über die Welt.« Es klang wieder nach einem Kind. Und wenn schon.
»Es ist nur nicht immer der Tag der Antworten«, murmelte Abel. Und nach einer Weile: »Der weiße Stoff ist natürlich genau das, was du denkst. Aber das willst du nicht wissen. Du willst wissen, warum ich verkaufe.« Er drehte den Kopf, und sie zog die Pinzette weg, die beinahe sein Auge gestreift hätte. »Ich nehme das Zeug nicht, Anna«, sagte er.
»Und ich bin die Königin von Saba.« Anna lachte.
Abel lachte nicht.
»Es ist wahr. Ich handle damit, das ist alles. Es bringt Geld. Michelle hat … ich habe meine Kontakte über sie bekommen, vor langer Zeit. Es ist gut, Kontakte zu haben. Ich kann es mir nicht leisten, irgendwas zu nehmen. Ich brauche einen klaren Kopf. Wegen Micha. Verstehst du? Und wegen der Schule. Ich brauche dieses Abi. Es ist schwer genug, wenn man so selten da ist …«
»Und wenn man so viel schläft«, sagte Anna.
Er nahm die Gläser, aus denen sie Kakao getrunken hatten, und trug sie in die Küche. Als er wiederkam, waren die Gläser sauber, und er trug eine Flasche Wodka. Er stellte sie schweigend auf den Tisch und goss einen Fingerbreit in beide Gläser. Dann setzte er sich wieder, sein Glas in beiden Händen wie Micha die Kakaotasse. Er saß jetzt weiter weg als zuvor. Aber nicht viel. Er sagte nichts mehr über einen klaren Kopf.
»Was glaubst du, was ich nachts tue, wenn ich morgens schlafe?«, fragte er ernst. »Sag mir, was du glaubst. Jeder glaubt irgendetwas.«
»Ich … ich weiß nicht«, sagte Anna und nahm das andere Glas. »Ich denke, du vertickst irgendwo in den Discos weißes Katzenfell?«
Er lachte. »Ja«, sagte er erleichtert.
Sie verstand seine Erleichterung nicht.
»Ja. Aber ich habe auch ein paar legale Jobs. Wenn man Kontakte hat … ich helfe in zwei der Kneipen hier draußen aus. Manchmal in der Stadt.«
»Du hast den Knaake nach einem Job gefragt. Unseren Leuchtturmwärter.«
Abel nickte. »Ja, unseren Leuchtturmwärter. Manchmal packt es mich, und ich denke, ich sollte etwas ganz anderes tun, um Geld zu verdienen. Etwas, das nichts mit Kneipen und Discos zu tun hat und … Etwas, das mit Denken zu tun hat. Denken kann man auch zu Hause … Micha ist zu viel allein. Nachts. Sie merkt es nicht, sie schläft, aber nach heute … ich weiß nicht, ob Lierski wiederkommt.« Er kippte den Wodka in einem Zug hinunter und stellte das Glas mit einem hörbaren Klicken auf die Tischplatte. »Wenn er Micha anfasst, bringe ich ihn um.«
Anna leerte ihr Glas ebenfalls. Sie mochte keinen Wodka.
»Kann ich noch ein Glas haben?«, fragte sie.
Beim Eingießen rückte Abel näher, sie wusste nicht, ob es Zufall war. Er schien zu gefangen in seinen eigenen Gedanken, um es überhaupt zu merken.
»Früher, früher konnte ich mich nicht gegen Lierski wehren«, sagte er. »Jetzt kann ich es. Wir sind gleich stark. Ich …«
Anna griff nach seiner rechten Hand und er zuckte weg. »Wehren, so, so«, sagte sie. »Dein Handgelenk ist hinüber.«
»Ach was«, sagte Abel. »Hat nur ein Stuhlbein
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