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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Sie dachte darüber nach, ob sie ihn anrufen sollte. Ob sie mit ihm reden sollte. Ob er vielleicht trotz seines zu freundlichen Lächelns und trotz Du-kannst-Sören-zu-mir-sagen hilfreich sein konnte. Wenn Abel Geld hätte, dachte sie, wenn er nicht mehr nachts arbeiten müsste, wenn er nicht mehr seine Kurse ausfallen ließe, um mehr Zeit für Micha zu haben … wäre dann nicht alles besser? Nein, sagte Abel in ihremKopf. Halt dich da raus. Haltet euch alle raus. Wir wollen keine Almosen. Lasst uns endlich in Ruhe.
    Magnus wartete mit laufendem Motor vor dem Haus, ihre Querflöte und die Noten im Auto. Sie kam viel zu spät. Sie war unkonzentriert. Sie verspielte sich dauernd. Sie schlief auf der Heimfahrt im Auto ein, den Kopf auf einen Arm gestützt. Sie träumte von Sören Marinke.
    Im Traum saß er an einem Kneipentisch im Mittendrin und spielte Karten mit Hennes und Bertil. Es war völliger Unsinn, sieselbst kam im Traum durch die Tür und wusste, dass es Unsinn war. Hinter der Theke lehnte der Knaake und sah den drei Kartenspielern zu, und ganz hinten im Raum, auf einem länglichen Tisch, stand ein offener Sarg. Anna sah, dass eine Menge Blumen darin lagen, lauter kleine weiße Frühlingssterne zwischen grünen Buchenästen: Buschwindröschen. Es war wie in einem kitschigen italienischen Mafiafilm.
    Und da war Musik in diesem Film, Musik, die aus den Lautsprechern des Mittendrin quoll, natürlich wusste sie, wer da sang, das Lied passte durchaus zu einer Beerdigung …
    And draw us near
    And bind us tight
    All your children here
    In their rags of light
    In our rags of light
    All dressed to kill
    And end this night
    If it be your will – if it be your will.
    Micha stand in ihrer rosa Daunenjacke neben dem Sarg und drückte Frau Margarete an sich. Anna reckte sich, doch sie konnte nicht erkennen, wer in dem Sarg lag. Rainer Lierski, nahm sie an. Oder war es jemand anders? Zeichnete sich unter den Blumen nicht eine Frauengestalt ab? Im Traum ist alles möglich. Sie sah sich um. Wenn alle hier waren, die in dieser Geschichte eine Rolle spielten – wo war Abel?
    »Wir sind da«, sagte Magnus und strich ihr durchs Haar, und sie zuckte zusammen. »Anna, wir sind zu Hause.«
    Sie blinzelte. Er saß am Steuer, machte aber keine Anstalten, auszusteigen.
    »Wollen wir nicht hineingehen?«, fragte Anna unbehaglich.
    »Nein«, sagte Magnus. »Gleich. Ich wüsste zuerst gern ein paar Dinge.« Er sah sie nicht an, er hatte den Blick auf die Schneeklumpen an der Straße gerichtet. »Wo du warst, zum Beispiel. Wo du dauernd bist. Ich gebe es auf, keine Fragen zu stellen. Es führt nirgendwohin.«
    »Und wenn ich jetzt nichts sage?«
    »Anna. Deine Mutter macht sich Sorgen.«
    Sie schwiegen eine Weile. Eine lange Weile. Dann stieg Anna aus. Er hätte das Auto von innen verriegeln können, sie zum Antworten zwingen, doch das wäre lächerlich gewesen. Sie spürte seinen Blick, als sie die Haustür aufschloss.
    »Ich gehe direkt ins Bett«, murmelte sie. »Es war gestern Abend zu spät. Ich glaube, ich bin zu müde zum Abendessen.«
    Als sie im Bett lag, fiel ihr ein, dass sie am Freitag die letzte Geschichtsklausur schrieben. Und dass sie diesen Tag damit hätte verbringen sollen, den Stoff zu wiederholen. Sie holte den Hefter mit ihrer Zusammenfassung aus ihrem Rucksack und nahm ihn mit ins Bett. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Wie feuchte Tinte, wie das eisige Wasser eines Wintermeeres, wie das Blaue eines Augenpaares, das sehr kalt sein konnte.
    Wenn du gehen musst, musst du gehen. Dein Unterricht ist wichtiger. Geh.
    Sie gab es auf. Sie suchte die Nummer vom Knaake heraus und rief ihn an. Es war halb neun, um halb neun sollte man einen Deutschlehrer anrufen können. Und einen Leuchtturmwärter sowieso.
    »Hier ist Anna«, sagte sie. »Tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe … ich wollte nur … Sie haben doch die Nummern aller Leute vom Deutschkurs 1, oder?«
    »Schon«, sagte der Knaake.
    Er klang müde, so als säße er irgendwo tief in einem Sessel verschüttet und hätte genug von seinen Schülern. Im Hintergrund lief Musik. Die Melodie kam Anna bekannt vor … »Ich brauche die Nummer von Abel Tannatek.«
    »Bitte?«
    »Seine Handynummer. Haben Sie die?«
    »Ja, schon, aber … warte, ich suche … ich muss erst mal nach oben gehen …« Die Musik entfernte sich. »Wieso hast du seine Nummer nicht? Ich meine, gewöhnlich hat man die Nummer seines Freundes …«
    »Meine Güte!«, sagte

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