Maerchenerzaehler
Anna beinahe ärgerlich. »Seit heute bin ich wohl offiziell mit ihm verheiratet, oder wie? Ich lebe nicht in seiner Jackentasche.«
»Anna … warum seit heute?«
»Seit ich mich auf dem Schulhof neben ihn gestellt habe. Seitdem alle reden. Seitdem er sich gestern Nacht beinahe mit Bertil geprügelt hätte.« Wie gut es tat, all diese Sätze auszuspucken!
»Hat er das getan?«
»Hören Sie nicht zu, wenn in der Schule geredet wird?«
»Nein«, sagte der Knaake, »ich glaube nicht. Ich dachte einfach, dass ihr beiden … dass ihr schon länger … vergiss es. Es geht mich nichts an. Ich habe die Nummer hier. Schreibst du mit?«
Sie schrieb mit, und sie merkte, dass sie dabei in sich hineinlächelte.
»Gut«, sagte der Knaake. »Anna … pass auf diesen Kerl auf, ja? Ich mache mir Sorgen.«
»Ich auch«, sagte Anna.
»Wenn er so weitermacht wie bisher, schafft er das Abi nicht. Und ich glaube, es ist wichtig, dass er es schafft. Oder nicht?«
»Doch«, sagte Anna, »ich denke schon. Wie gut kennen Sie ihn denn?«
»Gar nicht«, antwortete der Knaake. »Er wollte, dass ich ihm einen Job besorge … nach sieben Uhr abends … Ich habe mal irgendetwas davon erzählt, wie ich früher an der Uni Hiwi war und Papierkram erledigt habe … vielleicht hat er sich vorgestellt, er könnte so was tun, aber er ist kein Student … Ich weiß nicht, manchmal träumt er von Dingen, die es so nicht gibt. Es ist wichtiger, dass er sich auf die verdammten Prüfungen vorbereitet.«
»Wie steht er denn in Deutsch?«, fragte Anna.
»Das darf ich dir eigentlich gar nicht sagen … Redet ihr nicht über Noten?«
»Nein«, sagte Anna.
Der Knaake seufzte. »Wegen Deutsch mache ich mir keine Sorgen. Es sind die anderen Fächer. Wenn er nie da ist, kann er keine Punkte bekommen, die Logik ist einfach. In Deutsch … in Deutsch hat er 15 Punkte.«
Anna schluckte. »Er hat gesagt, er will schreiben. Später. Bücher vielleicht.«
»Später«, sagte der Knaake. »Aber jetzt, jetzt muss er das Abi schaffen.«
»Ja«, sagte Anna. Mehr gab es nicht zu sagen.
Sie holte tief Luft und wählte die Nummer, die der Knaake ihr gegeben hatte. Ich wollte heute nicht einfach davonlaufen, wollte sie sagen. Es war blödes Timing. Und: Hat Michelle wirklich angerufen? Und: Was ist morgen, wenn wir uns auf dem Schulhof begegnen, kennst du mich dann wieder nicht? Und: Was soll ich meinen Eltern sagen? Was sollte das Ganze mit dem Sozialarbeiter? Und: Ich habe geträumt, von Marinke und von einem Sarg voller Buschwindröschen … Aber eigentlich, dachte sie, wollte sie vielleicht auch überhaupt nichts sagen. Vielleicht wollte sie einfach Abels Stimme hören und wissen, dass alles in Ordnung war.
Sie ließ das Telefon siebenundfünfzig Mal klingeln. Er hob nicht ab.
Seltsam, erst nachdem Anna es aufgegeben und das Licht gelöscht hatte, erst als sie ganz still und sehr allein unter der Decke lag, fiel ihr die Melodie wieder ein, die sie im Hintergrund durch Knaakes Telefon gehört hatte. Und auch die Worte, die sie von Lindas alter Schallplatte kannte.
Yes you who must leave everything that you cannot control.
It begins with your family, but soon it comes around to your soul.
Well I’ve been where you’re hanging, I think I can see how you’re pinned:
When you’re not feeling holy your loneliness says that you’ve sinned.
»Sisters of Mercy«, flüsterte sie, halb im Schlaf schon. »Leonard Cohen.«
Die Frage, ob Abel sie am Donnerstag kennen würde oder nicht, stellte sich gar nicht. Abel war nicht da. Sie sah alle fünf Minuten aus dem Fenster und wartete darauf, eine dunkle Gestalt bei den Fahrradständern zu sehen, die Hände tief in den Taschen, die schwarze Mütze in die Stirn gezogen, weißes Rauschen in den Ohren. Da war niemand. Ein paar andere Leute aus der Kollegstufe schienen in derPause ebenfalls Ausschau nach ihm zu halten und drückten sich auffällig unauffällig bei den Rädern herum. Kunden, nahm Anna an und musste beinahe lächeln. Sie lächelte nicht.
Abel hatte gesagt, er würde Michelle heute bei Sören Marinke im Büro vorbeischicken. War Michelle wirklich zurückgekommen? Und wenn ja, wo war sie gewesen? Sie versuchte zweimal, ihn anzurufen. Beim dritten Mal war sein Telefon tot.
»Was ist los?«, fragte Gitta mittags. »Du siehst aus, als wäre dir kotzübel.« Sie legte Anna beide Hände auf die Schultern und sah sie an. »Liebes Kind«, sagte sie, »erzähl mir, was los ist. Du redest seit
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