Maerchenerzaehler
unpassend dafür war, hüpfte etwas in Anna ein wenig, als sie das sagte. Sie war – war sie? War sie Abels Freundin?
»Abel«, sagte Marinke und nahm einen Zettel aus seiner Mappe, um etwas darauf nachzusehen. »Abel Tannatek … das ist der Halbbruder von Micha, ist das richtig?«
Anna nickte. Marinke fand noch eine Notiz und fügte rasch hinzu: »Dass ihr Vater kürzlich … verstorben ist, das tut mir furchtbar leid. Aber wir müssen eine Lösung finden. Michas Mutter … kennen Sie sie? Wissen Sie, wo sie ist?«
»Nein«, sagte Anna. »Keiner scheint das genau zu wissen.« Sie fragte sich, ob sie hätte lügen sollen. Ob sie hätte sagen sollen: Ja, ich kenne sie gut, sie ist nur für ein Weilchen verreist, das tut sie häufiger …
»Dieser … Abel … er ist siebzehn, nach meinen Angaben … wenn Frau Tannatek wirklich wiederkommt … mit siebzehn kann man sicher gut ein paar Tage alleine wohnen, was? Es wäre Unsinn, auch etwas für ihn zu suchen … wir würden … ich meine, ich würde ein Auge zudrücken, wenn es darauf ankommt, sonst gibt esnoch mehr Aufstand … aber die Kleine braucht jemanden, der sich um sie kümmert.«
»Abel kümmert sich doch um sie«, sagte Anna. Sie fragte sich, ob Marinke das Geschirrgeklapper in der Küche nicht gehört hatte. Vermutlich schon. Vermutlich wusste er ganz genau, dass Abel da war und dass er ihn genauso gut selbst fragen konnte. Hoffte er, dass er irgendetwas aus Anna herausbekommen würde, was Abel ihm verschwiegen hätte?
»Wenn meine Angaben stimmen, steht er kurz vor dem Abi. Er kann sich nicht rund um die Uhr um ein kleines Mädchen kümmern.«
»Doch!«, rief Micha und sprang auf. »Das kann er wohl! Ich will nirgendwo anders hin! Nirgendwann nirgendwo zu nirgendwem!«
»Setz dich wieder«, bat Herr Marinke. »Lass uns mal zusammen überlegen. Hast du nicht noch irgendwelche anderen Verwandten?«
»Wir haben Onkel Rico und Tante Evelyn«, antwortete Micha, und ihre Stimme klang ganz hohl und dumpf, als sie das sagte. »Ich mag sie aber nicht. Ich geh da nicht hin, außer im absoluten Notfall. Wir waren mal bei ihnen, für die Ferien. Ich glaube, sie mögen Kinder nicht. Sie wollen nicht, dass man laut ist, und alles. Onkel Rico ist wegen irgendwas sehr böse geworden und er gibt manchmal Ohrfeigen und schreit rum und die wohnen ganz weit weg, da will ich nicht hin. Die wollen das sicher auch nicht.«
»Es gibt auch noch die Möglichkeit einer Pflegefamilie«, sagte Marinke. »Weißt du, Micha, wenn deine Mutter irgendwie doch nicht so bald wiederkommt, dann darfst du einfach … bis sie wiederkommt … bei einer anderen netten Familie wohnen. Aber das ist zweitrangig. Zuerst müssen wir feststellen, wer eigentlich gesetzlich für sie verantwortlich ist …«
Er merkte, dass Anna und Micha ihn beide anstarrten, und rutschte unruhig auf dem Sessel herum. Dann warf er einen Blick in Richtung der Küche.
»Ich meine, die Sache ist die«, sagte er leise. »Sehen Sie … ich habe das so verstanden, dass der Bruder nicht wirklich daran interessiert ist, dass wir uns hier einmischen. Ich könnte Michelle … ich meine: Micha … ganz einfach hier rausholen, ich könnte sie sogar mit der Polizei von der Schule abholen lassen, rechtlich ist das möglich, aber ich möchte das nicht. Mein Beruf reicht ein wenig über das Berufliche hinaus, ich … ich würde gerne die beste Lösung finden, für alle … und die beste Lösung scheint mir, herauszufinden, wo ihre Mutter sich aufhält, vielleicht können Sie mir behilflich sein … ich …«
»Weshalb sind Sie hier?«, fragte Anna.
»Um zu helfen«, sagte Marinke mit einem erstaunten Ausdruck.
Anna suchte seine Augen. Sie waren grün wie der Wald im Sommer. Sie sahen aus, als meinte er es ernst. Sie fragte sich, ob man ihm Dinge erklären konnte. Nein. Er würde nicht verstehen. Niemand verstand.
»Uns braucht überhaupt keiner zu helfen«, sagte Micha. »Ich habe Abel und Abel hat mich und wir haben beide Anna und wir brauchen sonst keinen.«
Himmel, dachte Anna, lass mich jetzt nicht anfangen zu heulen.
»Man braucht Geld, um zu leben«, sagte Marinke.
»Wir haben genug Geld«, sagte Micha. »Wir gehen sogar manchmal Kakao trinken. Und wir haben ein Buch gekauft, neulich, um zu feiern.«
»Woher habt ihr Geld?«, fragte Marinke.
»Woher wissen Sie überhaupt, dass Michelle Tannatek … verreist ist?«, fragte Anna schnell.
»Wir … wir hatten einen Anruf. Von einer
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