Maerchenerzaehler
dem teilweise kaputten Plastikspielzeug, das auf einer Kommode im Flur lag. In Frau Ketows Wohnung gab es keine Unordnung, aber da war etwas wie … Anna suchte nach einem Wort. Gleichgültigkeit, dachte sie. Diese Wohnung war noch viel trauriger als die Wohnung oben. Sie war so traurig, dass Anna die Luft wegblieb. Das Sozialamt hätte vermutlich nichts an der Wohnung auszusetzen gefunden, alles war so, wie es sein musste, wenn ein Amt hereinkommt. Im hinteren Teil der Wohnung stritten sich die anderen beiden Kinder. Frau Ketow fand die Flasche und steckte sie dem brüllenden Kind in den Mund wie zuvor den Schnuller. Dann zündete sie sich eine Zigarette an und öffnete das Fenster.
»Der Rauch ist nicht gut für die Kinder«, sagte sie. »Das haben sie mir gesagt. Ich mache das, was sie sagen, die zahlen ja für die Kinder, ich kümmere mich gut.«
»Ich bin nicht vom Sozialamt«, sagte Anna. »Mir ist es egal, was Sie machen. Ich will nur wissen, wohin Abel und Micha gegangen sind.«
»Wenn Sie mich fragen, die sehen Sie nicht wieder«, meinte Frau Ketow. »Ich hab sie gesehen, er hat einen Rucksack gehabt, wie wenn er eine Reise macht, und die Kleene, die auch. Das war heute Morgen um sieben oder so rum. Wo die hin sind, weiß ich nicht, aber ich war schon auf, ich steh früh auf, wegen der Kinder. Ist eine Menge Arbeit mit drei Kindern, das können Sie mir glauben … Wollen Sie mal Kinder? Oder was wollen Sie vom Leben?«
»Ich will Abel und Micha finden«, sagte Anna, drehte sich um und ging.
Doch sie konnte Abel und Micha nicht finden, es gab keine Spur, sie war kein Detektiv, und wer nicht gefunden werden will, wird nicht gefunden.
Zu Hause wich sie Lindas Blicken aus, murmelte etwas von »Geschichte noch mal wiederholen« und ging hinauf in ihr Zimmer. Sie wusste, dass Magnus sauer war, weil sie sich weigerte, ihrer Mutter irgendetwas zu erklären. Aber hätte sich Linda nicht noch mehr Sorgen gemacht, wenn sie ihr die Dinge erklärt hätte? Und überhaupt drehte es sich jetzt nicht um Linda.
Die blaue Luft, durch die Anna ging, war so durchsichtig und leicht wie immer, aber es kam ihr jetzt vor, als müsste sie darin ertrinken. Fast sehnte sie sich zurück in das graue, hässliche Treppenhaus der Amundsenstraße 18. Sie holte die Visitenkarte von Sören Marinke heraus und legte sie vor sich auf den Schreibtisch.
War es doch keine Lüge gewesen? Hatte Michelle wirklich angerufen? Waren Abel und Micha jetzt dort, wo Michelle war? Oder war Abel einfach mit Micha davongerannt, weil er wusste, dass Marinke ihm Micha früher oder später wegnehmen würde? Wenn Marinke davon wusste, dass sie abgehauen waren, würde er ihnen die Polizei auf den Hals hetzen. Wo immer sie hinwollten, sie brauchten einen Vorsprung. Anna durfte auf keinen Fall die Nummer auf der Visitenkarte anrufen. Sie nahm das Telefon und wählte.
Sie musste anrufen. Sie musste herausfinden, ob er etwas wusste. Sie legte sich einen komplizierten Einleitungssatz darüber zurecht, dass sie mit ihm sprechen wollte und ob er noch einmal bei den Tannateks gewesen wäre oder nicht … sie würde sich verhaspeln, ihr Herz raste. Doch als sich schließlich jemand meldete, war es eine Frau, deren Namen Anna noch nie gehört hatte.
»Ich … ich möchte Sören Marinke sprechen«, sagte sie.
»Das ist zurzeit nicht möglich«, sagte die Frau.
»Ist es später besser?«, fragte Anna. »Ich kann später noch mal anrufen. Es ist so, er hat mich gebeten, ihn anzurufen …«
»Herr Marinke ist heute nicht im Büro«, sagte die Frau.
»Wann kommt er denn wieder?«, fragte Anna. Verflixt. Ihre Strategie funktionierte nicht.
»Das … kann ich Ihnen leider nicht sagen«, antwortete die Frau.
»Ist er krank?«, fragte Anna. »Es ist wichtig, wissen Sie, es geht um einen seiner … wie sagt man das … Fälle? Vielleicht kann mir ja jemand weiterhelfen, der ihn vertritt …«
»Ich fürchte, nein. Er wird sich um seine Sachen kümmern, wenn er wieder da ist. Wir hoffen, dass er morgen wieder da ist. Die Akten werden nur übernommen, wenn jemand wirklich länger fehlt, sonst lohnt sich die Einarbeitung nicht, denn …«
»Auf seiner Karte steht eine Handynummer«, sagte Anna. »Wäre es sehr unhöflich, wenn ich ihn auf dem Handy anriefe?«
Die Frau am anderen Ende der Leitung schien zu seufzen.
»Sie können es versuchen«, sagte sie. »Aber Sie werden kein Glück haben. Das haben wir hier auch schon versucht.«
»Ich … verstehe
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