Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
gestern Morgen beinahe kein Wort. Ich schlage vor, wir gehen heute Nachmittag nicht zu irgendwelchen unsinnigen Kursen, sondern wir trinken einen Kaffee in der Bäckerei drüben, und du kotzt dich aus. Verbal, meine ich.«
    Anna ließ sich von Gitta am Arm wegführen. Tatsächlich tat es gut, heißen Kaffee zu trinken, auch wenn er nach Zitrone mit Farbstoff schmeckte.
    »Okay«, fing Gitta an. »Alle reden. Lass sie reden. Lass sie sich das Maul zerreißen.«
    »Ich habe mich gewundert, dass du es nicht tust«, sagte Anna, weniger boshaft als ehrlich erstaunt. »Dass du nicht redest und dir das Maul zerreißt.«
    »Liebes Kind«, sagte Gitta. »Es mag dich nicht interessieren, aber ich bin zurzeit glücklich genug, ohne über andere zu reden. Mit Hennes … läuft alles ganz gut, weißt du. Und außerdem bin ich deine Freundin, remember?«
    »Hm«, machte Anna.
    »Also«, sagte Gitta leise und beugte sich über den Tisch. »Was ist passiert?«
    »Er ist weg«, antwortete Anna, und sie hörte, wie kläglich sie klang. »Abel ist weg.«
    »Seid ihr denn nun zusammen oder nicht? Habt ihr …?«
    »Darum geht es nicht«, sagte Anna. »Es geht nicht um Zettel mit Willst-du-mit-mir-gehen-kreuz-an-ja-nein-vielleicht. Es geht auch nicht darum, wer mit wem was hat. Begreift ihr das denn alle nicht? Es geht um ganz andere Dinge! Abel ist verschwunden!«
    »Unsinn«, sagte Gitta sachlich. »Nur weil er heute nicht in der Schule war, ist er noch lange nicht verschwunden. Irgendwo wird er schon sein.«
    »Er geht nicht an sein Handy.«
    »Vielleicht will er einfach seine Ruhe haben.«
    »Gitta«, sagte Anna. »Seine Mutter ist seit einer Weile weg, und gestern hat er gesagt, sie hätte angerufen, sie käme wieder, und nun ist er weg. Und jemand hat …«
    Nein, dachte sie, Rainer Lierski ging Gitta wirklich nichts an.
    »Mal ganz der Reihe nach«, sagte Gitta. »Gibt es denn nun diese kleine Schwester oder nicht? Oder ist die auch verschwunden?«
    Anna verkippte beinahe ihren Kaffee. Natürlich. Micha. Etwas war mit Micha passiert.
    »Vielleicht«, sagte sie leise. »Vielleicht ist es das.«
    Sie stand auf und schlüpfte in ihren Mantel. »Gitta, es tut mir leid«, sagte sie. »Wir reden ein andermal darüber. Ich muss los.«
    Sie klingelte dreimal unten an der Haustür mit der Nummer zwölf, wartete und klingelte noch weitere drei Male. Niemand öffnete. Anna legte die Hände vors Gesicht, atmete tief durch und versuchte, klar zu denken. Dann wurde ihr bewusst, dass sie tat, was Abel sonst tat. Und es half. Sie wusste jetzt, was sie tun konnte. Sie nahm dieHände wieder herunter und klingelte im Erdgeschoss. Der Summer ließ Anna in den Hausflur und in der Tür unten stand Frau Ketow in demselben Trainingsanzug wie beim letzten Mal. Sie trug wieder ein Kind auf dem Arm, ein schreiendes und überfüttertes Kleinkind mit stumpfem Blick. Als sie Anna sah, steckte sie dem Kind einen Schnuller in den Mund, und das Kind war still.
    »Was für ein süßes Kind!«, sagte Anna und fand das überhaupt nicht.
    Frau Ketow nickte. »Ich kümmer mich gut um die Kleinen. Der Älteste, der ist drei, hab sie alle für die Pflege.« Sie schaukelte das Kind und musterte Anna. »Und? Warum sind Sie hier?«
    »Wissen Sie, wo Abel und Micha sind?«
    »Die sind weg«, sagte Frau Ketow. »Mich wundert das nicht. Ich hab das immer gewusst, dass das nicht gut geht mit den Tannateks. Die Kleene kann natürlich nichts dafür, die ist ein ganz liebes Kind, aber der Kerl, der Ältere, wie ist das, Sie gehen zur Schule mit dem, ja? Von dem würde ich die Finger lassen, na, jetzt sind sie weg.«
    »Was bedeutet weg ?«, fragte Anna.
    »Bei Nacht und Nebel abgehauen«, sagte Frau Ketow, und Anna war für einen Moment erleichtert, denn wo immer Abel und Micha waren, sie waren zusammen dorthin gegangen. Niemand anders hatte Micha abgeholt. Das Kind spuckte den Schnuller aus und begann wieder zu schreien, und Anna hob ihn auf, doch diesmal ließ es sich nicht mit dem Schnuller beruhigen.
    »Der braucht die Flasche«, sagte Frau Ketow. »Wollen Sie reinkommen?«
    Anna trat hinter ihr in den engen Flur. Die Wohnung war exakt so geschnitten wie die von Abel und Micha und die Tapete war fast die gleiche. Die dunklen Schränke waren neuer als die im viertenStock, aber genauso hässlich. Dennoch war alles ganz anders. Die Wohnung atmete nicht. Sie war tot. Vielleicht, dachte Anna, lag es daran, dass hier keine Kinderbilder an den Wänden hingen, vielleicht lag es an

Weitere Kostenlose Bücher