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Märchenerzähler

Märchenerzähler

Titel: Märchenerzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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er den Jagdschein noch nicht hatte? Jetzt, wo der Boden taute, kam das Wild sicher aus seinen Verstecken, sie sah die Hufabdrücke von Rehen im Schlamm, sie waren nicht scheu hier, Gitta hatte erzählt, sie kämen manchmal über die Wolgaster Straße, bis in die Gärten des Neubaugebiets, sie fraßen die jungen Triebe der Büsche. Der Garten von Gittas Mutter war selbstverständlich steril abwaschbar, da gab es für das Wild nichts zu holen, aber ihre Nachbarin, sagte Gitta, regte sich ständig darüber auf, dass die Wildschweine ihr Gemüse ausgruben.
    Die Wildschweine. Anna sah, wo sie den Schlamm zerwühlt hatten, auf der Suche nach den Bucheckern des vergangenen Herbstes.
    Etwas raschelte in der Nähe und sie fuhr herum. Sie hatte keine Lust, hier draußen einem Eber zu begegnen oder einer Bache –wann hatten Wildschweine Junge? Jetzt war wieder alles still. Wahrscheinlich war es nur ein Vogel gewesen. Sie hörte die ersten Amseln und Meisen singen. Natürlich, ein Vogel.
    Sie befand sich jetzt wieder auf dem Pfad, den sie mit Abel und Micha entlanggerannt war, sie duckte sich und schlüpfte zwischen den noch kahlen Ästen der Haselnussbüsche hindurch, die Knospen waren an den Spitzen schon beinahe grün. Hier war die Stelle, wo der Pfad sich gabelte, dahinter wohnten jetzt im Frühling keine Unsichtbaren mehr.
    Im letzten Frühjahr hatte sie genau hier mit Gitta zusammen Blumen gepflückt, wirklich, mit Gitta, die niemals zugeben würde, dass sie im Wald Blumen pflückte wie ein kleines Mädchen. Hier war die beste Stelle im ganzen Elisenhain. Anna teilte das Gebüsch, der Pfad war jetzt wieder von Tierspuren übersät. Sie richtete sich auf und stand vor einem zerwühlten Stück Erde. Hier gab es keine Buschwindröschen mehr, nicht in diesem Frühjahr. Hier hatten tatsächlich die Wildschweine gewütet.
    Aber warum, fragte sie sich, warum gerade hier, wo wenig Buchen standen und mehr Büsche? Sie würde anderswo Buschwindröschen pflücken, es gab genug. Sie wollte einen Bogen um die Stelle machen, um die Schweinesuhle herumgehen … und dann sah sie, dass die Wildschweine etwas ausgegraben hatten. Da steckte etwas im Schlamm fest, etwas Buntes, rot und blau, Stoff. Es raschelte wieder, ein Stück entfernt, sie sah auf – hatten sich dort die Zweige der Büsche bewegt? Nein. Sie fing an, sich Dinge vorzustellen, die nicht da waren. Ihre Einbildungskraft hing noch in Ludwigsburg fest, zwischen den Kiefern, im Schneesturm. »Aber das war noch tiefster Winter«, flüsterte sie, »das ist Jahrtausende her. Denn jetzt, jetzt ist Frühling. Damals hatte ich Angst … und jetzt …«
    Jetzt hatte sie mit einem Mal wieder Angst. Sie trat näher an die Suhle heran. Kleidung, jemand hatte dort Kleidung vergraben, ein rotes Hemd, eine blaue Regenjacke … sie kniete sich hin, ganz nah, zu nah. Haare, da waren Haare zwischen dem Schlamm, lange Strähnen von Haar. Eine Puppe, bitte, lieber Gott, ich habe nicht mehr gebetet, seit ich ein Kind und es Weihnachten war, hör mich, bitte, lass es eine Puppe sein.
    Sie merkte, dass sie zitterte. Ihre Zähne schlugen unkontrollierbar aufeinander, es war wie Schüttelfrost bei hohem Fieber. Sie zwang sich, einen Ast zu nehmen, Blätter und Erde zur Seite zu scharren. Hinsehen, hinsehen, nicht wegsehen, du musst jetzt hinsehen. Das waren keine Kleider. Natürlich nicht. Nicht nur. Dort, unter der Erde, lag der Körper einer Frau. Er hatte vielleicht schon lange dort gelegen, sie erkannte nicht viel, er war zu verschmiert von der Erde. Zum Glück, dachte sie. Zum Glück sehe ich das Gesicht unter der Erde nicht. Die Frau lag auf dem Rücken. Langes blondes Haar …Sie dachte an Michas Lehrerin. Michas Lehrerin, Frau Mirkowicz, die Juwelierin, die den Diamanten formen und zerstören wollte – oder von der Abel glaubte, dass sie das wollte. Frau Mirkowicz mit ihrem frühlingsgrünen Mantel, womöglich besaß sie auch einen blauen Mantel oder sie hatte einen besessen – sie war die Einzige, die der kleinen Königin bis zum Schluss gefolgt war. Die letzte Bedrohung. Alle anderen waren entweder umgekommen oder geflohen. Anna beugte sich vor, ihr Stock fand eine Hand, und diese Hand war, trotz des Frostes, kaum noch zu erkennen. Auch in der Erde unter dem Schnee arbeiteten Insekten, Mikroorganismen, die Zeit. Diese Leiche lag länger dort als einen Tag. Anna sah einen Moment weg. Ihr war kotzübel und noch immer sehr kalt. Da war noch etwas gewesen, etwas war ihr eben

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