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Märchenerzähler

Märchenerzähler

Titel: Märchenerzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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»Shit!«, sagte er schließlich, trat einen Schritt zurück und legte die Hände vors Gesicht, atmete tief durch. »Shit.« Als er die Hände vom Gesicht nahm, sah sie, dass er blass geworden war. »Er ist tot«, sagte er.
    Anna nickte.
    »Und ich habe gesagt, ich bringe ihn um«, sagte Abel. Anna nickte wieder.
    »Ich hätte es getan«, sagte Abel leise. »Ich hätte es getan, wenn er wiedergekommen wäre.«
    »Er ist nicht wiedergekommen?«
    »Nein.« Abel schüttelte den Kopf, ging zum Fenster, sah hinunter auf den Schulhof, wo leise mehr Schnee fiel. Anna sah mit ihm hinaus. Bunte Fünftklässler glätteten mit ihren Stiefeln eine Schlitterbahn, ein Grüppchen Raucher stand bei den Fahrradständern, Anna sah Gitta dort unten. Die Lichter im Kursraum waren nicht an, sie waren unsichtbar hier oben, in einem Turm aus Zeitungspapier.
    »Ich war nicht dort«, sagte Abel. »Ich wünschte, ich könnte erleichtert sein … er wird nie wiederkommen. Aber ich war nicht dort.«
    »Beim Admiral?«
    Er nickte. Er stellte die Frage nicht, die gestellt werden musste. Glaubst du mir?
    »Du könntest ein Alibi gebrauchen«, sagte Anna. »Ich habe eure Wohnung an diesem Samstag erst gegen Mitternacht verlassen.«
    »Nein«, flüsterte Abel und drehte sich um. »Das hast du nicht.«
    »Doch«, sagte Anna, »ich weiß noch genau, wie ich zu Hause auf die Uhr sah und dachte, jetzt ist es schon halb eins … Wenn meine Eltern sich eingebildet haben, dass ich früher zu Hause war, haben sie sich das eben eingebildet.«
    Abel schüttelte langsam den Kopf.
    »Nein«, wiederholte er. »Nein. Das ist meine Sache.«
    Und dann tat er etwas völlig Unerwartetes. Er zog sie an sich und drückte sie einen Moment lang so fest, dass sie glaubte, jeden seiner Knochen zu spüren. Und irgendwo dazwischen seinen Herzschlag, schnell und unruhig. Gehetzt. Er ließ sie los, ehe sie seine Umarmung erwidern konnte, ehe es eine Umarmung wurde, ließ sie stehen und floh aus dem Zeitungspapierturm.
    Anna knüllte die Zeitung zusammen und warf sie in den Papierkorb.
    Als Linda an diesem Nachmittag nach Hause kam, saß Anna ganz alleine im Garten auf einem Klappstuhl, mitten im Schnee, und sah den Vögeln zu. Sie trug ihren Wintermantel, aber keine Mütze, und in ihrem dunklen Haar hatten sich weiße Schneekristalle gefangen, die der Wind vom Dach trug. Es schneite seit mittags nicht mehr, die Welt war still, bis auf den Lärm der Vögel in den Rosenranken.
    Linda blieb in der Tür stehen und betrachtete ihre Tochter. Sie saß so reglos wie eine Statue, ein Kunstwerk, das jemand in den Garten gestellt hatte, eine Vogeltränke vielleicht, eine Vogeltränke in Mädchenform. Sie trat zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter, die Statue erschrak und die Rotkehlchen flogen davon.
    »Sitzt du hier schon lange?«, fragte Linda.
    »Ich weiß nicht«, sagte Anna und sah auf. Ihre Lippen waren blau gefroren. Auch in ihren Augenbrauen saßen Schneekristalle.
    »Komm rein«, bat Linda, sie befahl nicht, sie bat. »Trink einen Kaffee mit mir. Erzähl mir, wenn du willst … erzähl mir, was passiert ist.«
    »Nichts«, sagte Anna. »Eigentlich ist nichts passiert. Ich denke nur … ich denke noch immer an die Sache heute Morgen … Chicago … den Mann, der da totgeschlagen wurde, ich frage mich … wie viel Wut man braucht, um einen Menschen totzuschlagen, und ob man es mit den Fäusten tun kann oder … oder ob eine Faust reicht, in dem Fall, dass man die andere nicht benutzen kann … ich frage mich, wie so jemand stirbt … ich meine, selbst wenn er es vielleicht verdient hat …«
    Sie stand auf und folgte Linda nach drinnen und Linda nahm ihr behutsam den Mantel ab.
    »Du bist eiskalt«, sagte sie. »Anna … der Mann … er ist nicht an den Folgen einer Schlägerei gestorben. Auch wenn das in der Zeitung stand. Ich sollte dir das nicht sagen.«
    »Wie … woran dann? Woher …?«
    Linda wandte sich ab und setzte Kaffeewasser auf.
    »Der Mann meiner Kollegin arbeitet in der Gerichtsmedizin«, sagte sie. »Sie hat es mir erzählt, vorhin. Ich weiß nicht, warum es nirgends stand … vielleicht hat die Polizei ihre Gründe, darüberzu schweigen … aber er war gleich tot, weißt du? Er ist erschossen worden.«
    Anna packte ihre Mutter am Arm und sah die Verwunderung in Lindas Augen. »Erschossen? Weißt du das genau?«
    Linda nickte. »Von hinten, hat sie gesagt, ein Schuss von hinten in den Nacken. Er war sicher sofort tot. Ich wollte nur, dass

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