Märchenmord
Dass die Erwachsenen einen immer für unzurechnungsfähig hielten, für bekloppt. Dabei hatte sie, Gina, alles ganz deutlich gesehen. Da gab es keinen Zweifel. »Die Wohnung war hell erleuchtet. Ich konnte ihn deutlich erkennen. Es war derselbe Mann, der vorher unten auf der Straße gestanden und hochgestarrt hatte.« »Bon«, sagte Monsieur Ravel, »ein Mann also.« Er zog sein Handy hervor und ging einen Schritt beiseite. Während er telefonierte, trat Gina von einem Fuß auf den anderen. Warum dauerte das alles so lange? Warum erzählte ihr keiner, was mit dem Mädchen war? Das Feuer in der Wohnung war gelöscht. Dicke Rauchschwaden drangen durch die zerborstenen Fenster. Den Blick nach oben gerichtet, hörte Gina plötzlich hinter sich Geschrei. Eine aufgeregte Stimme, die ihr bekannt vorkam. Als sie sich umdrehte, stand ihre Mutter hinter der Absperrung und schrie einen jungen Polizisten an, der verwirrt die Hände hob. Oh Gott, Maman würde doch nicht mit der Handtasche auf ihn losgehen? »Gina, was ist los?« Ginas Mutter verlor ihren Schuh, als sie sich bückte, um durch die Absperrung zu kriechen, ungeachtet der Tatsache, dass der junge Polizist sie zurückzuhalten versuchte. »Fassen Sie mich nicht an«, zischte sie. Ihre Frisur hatte den Abend nicht überstanden. Zahlreiche Strähnen hatten sich gelöst und hingen ihr ins Gesicht. »Kennst du die Frau?«, fragte Maurice Ravel. »Vor drei Stunden«, sagte Gina »war das noch meine Mutter.«
•
Acht
M ann, ihre Mutter schien sich tatsächlich Sorgen zu machen , so wie sie auf Gina zurannte. Sie wollte schon den Kommissa r warnen, denn Maman konnte zur Furie werden, wenn es u m ihre Tochter ging, und tatsächlich, als sie bei ihnen ankam, la g in ihren Augen dieses gefährliche gelbe Funkeln. Und so wie si e die Hände nach vorne streckte, konnte man denken, dass si e tatsächlich ihre Krallen ausfuhr . Sie packte Gina an den Schultern und drückte sie fest an sich . »Was ist los? Geht es dir gut? Ist dir auch wirklich nichts geschehen? « »Nein, alles in Ordnung. « »Bist du sicher? « »Ja, klar bin ich sicher. Oder sehe ich tot aus? « »Sag so etwas nicht. « Energisch wandte sich Valerie Kron schließlich an Monsieu r Ravel und starrte ihn so böse an, als hätte er Gina nach Pari s entführt und nicht sie selbst . »Was, verdammt noch mal, geht hier eigentlich vor? Wieso halten Sie meine Tochter fest? « »Maman«, mischte sich Gina ein, »das erzähle ich dir alles später. Jetzt ist nur eines wichtig, dass wir… « Ihre Mutter hörte sie nicht, sondern sprach wütend auf de n Kommissar ein, der zunächst keine Miene verzog, wofür Gin a ihn bewunderte. Das hatte ihr Vater nie geschafft. Andererseits , als Polizist hatte er sicher mit schwierigeren Fällen zu tun al s ihrer Mutter, und tatsächlich brachte er diese für einen kurze n Moment mit ruhiger Stimme zum Schweigen . »Sie sind also die Mutter dieses Mädchens? « »Sehe ich etwa wie ihre Großmutter aus?« Ihre Mutter starrt e den Kommissar wütend an .
»Aber nein, Madame«, erwiderte dieser lächelnd. »Ich dachte eher an ihre Schwester.« Damit hatte er ihre Mutter natürlich am Haken. Da wurde sie butterweich. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie so anschreie, aber ihr Vater«, sie deutete auf Gina, als sei diese ein Gegenstand, »hat angerufen und erzählt, es sei etwas Schreckliches passiert.« »Es war furcht…«, begann Gina, wurde aber sofort wieder von ihrer Mutter unterbrochen. »Er konnte mir aber nicht sagen, was. Er wusste nur, dass Gina angerufen hatte.« Sie wandte sich vorwurfsvoll an Gina: »Warum hast du eigentlich nicht mich angerufen, sondern deinen Vater? Der kann dir doch, weiß Gott, nicht helfen. Stattdessen hat er mich angebrüllt, weil ich dich allein gelassen habe.« »Deine Nummer, sie…« »Als ich die ganze Polizei und die Feuerwehr hier gesehen habe, dachte ich, du hättest einen Unfall.« Ihre Mutter legte die Hand auf die Brust. »Kannst du dir vorstellen, wie ich erschrocken bin?« »Dieser Mann …«, versuchte Gina es erneut. »Welcher Mann?« »Ich glaube, er hat sie getötet. Sie einfach…« »Getötet? Wovon sprichst du überhaupt?« »Wenn du mir verdammt noch mal einmal zuhören würdest, dann könnte ich dir die ganze Geschichte erzählen«, schrie Gina plötzlich. Damit brachte sie ihre Mutter tatsächlich zum Schweigen und konnte nun ruhig die Geschichte zum zweiten Mal erzählen. Als sie fertig war, musste sich ihre Mutter in den Rollstuhl
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