Märchenmord
beobachtet.« »Jaja, das ist aber jetzt Sache der Polizei. Dieser Monsieur Ravel wird sich darum kümmern. Übrigens ein netter Mann.« »Wird er nicht. Und weißt du auch warum? Weil nicht einmal du, meine eigene Mutter, mir glaubst.« »Und bitte«, ignorierte ihre Mutter sie, »ruf nicht sofort wieder deinen Vater an. Dann bist du schneller in Frankfurt, als du denken kannst, und musst mit ihm bei dieser Tussi wohnen, die aussieht wie Paris Hilton.« »Immer noch besser als in der Wohnung von einem, der sich einbildet, Ludwig XVI. zu sein.« Doch ihre Mutter war bereits wieder verschwunden. Die Polizei – für die existierte das Mädchen in dem blauen Kleid doch lediglich als Traumgestalt in Ginas Kopf.
*
Gina saß in der Theatergarderobe, wo ihre Mutter ihr Kostüm an einer Schneiderpuppe absteckte. Es hatte viel Ähnlichkeit mit dem Gewand, das das Mädchen getragen hatte. Gina konnte die Augen kaum davon abwenden. Immer wieder kaute sie vor Aufregung an ihren Fingernägeln.
»Lass das«, sagte ihre Mutter, zahlreiche Stecknadeln im Mund »Dazu bist du zu alt.« Gina hatte Angst, dass sie die Nadeln verschlucken könnte. Andererseits sollte sie doch. Ihr doch egal. Es war zum Verrücktwerden. Dass alle einfach so weitermachten, während Gina doch genau wusste … und sie täuschte sich nicht. Das Mädchen existierte und der Mann auch, der schwarze Mann, ein Lord Voldemort, der nachts durch Paris geisterte und Mädchen tötete. Zum hundertsten Mal blätterte sie die Pariser Tageszeitungen durch, die ihre Mutter auf ihr Drängen an einem Kiosk gekauft hatte. Doch nichts. Nur eine kleine Notiz über einen Wohnungsbrand in der Rue Daguerre und der Hinweis, dass glücklicherweise niemand zu Schaden gekommen sei. Kein Wort von einem Mädchen, das vermisst wurde! Keine Andeutung, wie der Brand ausgebrochen war. »Warum schreiben die nicht mehr?« Ihre Mutter seufzte. »Es war spät gestern Abend, die Redaktionen vielleicht schon geschlossen! Da setzen sie eben nur eine kleine Meldung in die Zeitung.« »Kein Wort über das Mädchen!« Ihre Mutter schwieg. »Irgendjemand muss das Mädchen doch vermissen, oder?« Wieder keine Antwort. »Vielleicht hat noch jemand anders in der Straße sie gesehen?« »Du hast doch gehört, was der Polizist gesagt hat. Die Wohnung steht leer. Schon seit Jahren!« »Denken sie.« Eine Weile schwiegen beide. »Und warum meldet sich dieser Kommissar nicht? Er braucht doch eine Beschreibung von dem Mörder, sonst wird er ihn nie finden. Ohne mich wissen die ja gar nicht, wie er aussieht. Ode r das Mädchen. Ich könnte beide genau beschreiben. « »Gina! Ich kann mich jetzt nicht mit dir unterhalten. Ich mus s mich konzentrieren! « Ich muss mich konzentrieren, äffte Gina in Gedanken die Wort e ihrer Mutter nach . Weshalb war sie überhaupt mitgekommen? Jeder wusste doch , dass das Theater eine Klapsmühle war. Überall Verrückte, di e sich mächtig wichtig nahmen . »Da hätte ich auch zu Hause bleiben können.« Gina sprang vo m Tisch herunter . »Du machst mich wahnsinnig, Gina«, seufzte ihre Mutter erneut . »Warum ruft er nicht an? « »Glaube mir, wenn die Polizei sich nicht meldet, ist das imme r ein besseres Zeichen als umgekehrt. « »Ihr denkt alle, ich bin verrückt. « Ginas Mutter drehte sich zu ihr und schnitt eine Grimasse. »T u mir einen Gefallen, Gina, und geh in den Zuschauerraum. Mozart beruhigt. « Mein Gott, ihre Mutter sprach mit ihr wie mit einer Dreijährigen. Geh schön spielen und lass Mama arbeiten . »Auf das Gejaule kann ich verzichten. Davon bekomme ich nu r Kopfschmerzen. « Dennoch verließ Gina die Garderobe und begab sich zur Bühne , wo einige Arbeiter damit beschäftigt waren, Kulissen aufzubauen. Der Palast des Sultans war aus Sperrholzplatten zusammengezimmert und schwebte an Seilen über die Bühne, währen d das Orchester probte. Nie und nimmer würden die es schaffen , dass es wie Mozart klang. Jedes Instrument machte, was e s wollte. Das Ganze hörte sich an wie die Versuche der musikalischen Früherziehung . Mozart .
Die Entführung aus dem Serail.
Eine abgedrehte Entführungsgeschichte, in der Konstanze nach einem Überfall von Seeräubern auf einem Sklavenmarkt verkauft und in den Palast eines orientalischen Fürsten verschleppt wird. Wer lebte hier in einer Fantasiewelt? Sie oder die Erwachsenen, die tierisch viel Geld bezahlten, um so etwas zu sehen? Nein, Gina konnte am Theater und an der Oper nichts finden. Oben auf der Bühne stand
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