Märchenmord
Holztrepp e führte hoch zu einer Art Dachboden. Kistenstapel versperrte n den Weg . »Du fühlst dich hier offenbar wie zu Hause. « »Ich bin hier auch wie zu Hause. Monsieur Saïd lässt mich i m Lager schlafen, wenn es spät wird und ich nicht mehr nac h Hause komme. Abends, wenn sie ausgehen, haben die Leut e Zeit, sich die Schuhe putzen zu lassen. « »Aha«, sagte Gina und biss in ihren Pfirsich . Nach einigen Minuten des Schweigens fragte Noah: »Und wa s machen wir nun? « »In die Wohnung gehe ich nicht zurück«, erklärte Gina. »Nicht , bis meine Mutter kommt. « »Wir können natürlich auch den ganzen Tag hier sitzen… « »Du musst ja nicht bleiben, wenn du nicht willst«, murmelte Gina, obwohl sie panische Angst hatte, er könnte sie allein lassen . »Ich habe dich nicht gebeten, mir zu helfen. « »Es gibt ein arabisches Sprichwort«, fuhr Noah fort . »Noch eines? « Zusammen schwiegen sie eine Weile . »Also sag schon, was für ein Sprichwort?«, fragte Gina schließlich . »Setz dich an das Ufer des Wadi und du wirst die Leiche deine s Feindes vorüberschwimmen sehen. « »Was soll das heißen? « »Wir müssen abwarten. Irgendwann gibt der Typ auf. « »Und wenn nicht? «
Noah zuckte mit den Schultern . »Und er kommt sicher wieder«, fuhr Gina fort. »Er weiß schließlich, dass ich ihn gesehen habe. Ich bin die einzige Zeugin. « Im hinteren Teil des Lagers knackte es. Gina schreckte zusammen. »Was war das? « »Mäuse. Ratten. Keine Ahnung. « Gina sah sich mit angewidertem Gesichtsausdruck um . »War nur ein Scherz«, grinste Noah. »Wenn Monsieur Saïd hie r auch nur eine Fliege erwischt, kommt er schon mit seinem Luftgewehr, das er unter der Ladentheke aufbewahrt. « »Ich gehe zur Polizei …«, sagte Gina entschieden. »Ich erzähl e Monsieur Ravel, dass mein Handy gestohlen wurde. Ich meine , es ist ziemlich teuer. Wenigstens den Diebstahl muss er mi r doch glauben. Und wenn er das Handy sucht, findet er auch de n schwarzen Mann. « Noah verschränkte die Arme und schwieg . »Meinst du nicht? « »Er glaubt dir den Mord nicht. Wenn du heute kommst und etwas von einem Handy faselst, denkt er, du willst dich nur wichtig machen. « »Aber du hast den Mann doch auch gesehen.« Gina sah Noa h an, der die Augen abwandte. Was war jetzt los ? »Ich habe nur einen Mann vor einem Haus gesehen.« Er macht e eine kurze Pause. »Außerdem existiert er nicht. « »Was soll das heißen? Er existiert nicht. Spinnst du? « Noah schüttelte langsam den Kopf. »Genau das ist das Problem . Er existiert nicht und das Mädchen vielleicht auch nicht. « »Du sprichst gerne in Rätseln, oder? « »Das ganze Leben ist ein Rätsel. « »Dann erkläre es mir. « »Das ganze Leben? « Gina seufzte. O. k., er hatte ihr geholfen, aus der Wohnung z u kommen, aber dennoch ging Noah ihr auf die Nerven. Er tat s o verdammt überlegen, als sei er schlauer als die Polizei.. . »Red keinen Schwachsinn! « »Das ist kein Schwachsinn. Das verstehst du nur nicht. De r Mann gehört zu den Sans-Papiers. « »Sans-Papiers? « »Oui. «
»Was meinst du damit? « »Er ist papierlos. Papierlos, verstehst du?« Noah blickte Gina jetzt direkt in die Augen. »Er besitzt keinen Pass. Niemand weiß, dass er i n Paris ist. Er ist illegal. Er darf hier gar nicht sein. Jedes Jahr komme n Tausende von Menschen aus Afrika nach Frankreich. Sie fahren mi t Fischerbooten von Gibraltar nach Spanien und kommen nach Paris . Wer das überlebt, hat gelernt, sich unsichtbar zu machen. « »Unsichtbar? « »Unsichtbar. Du wirst sehen, sobald die Polizei kommt, ist de r Mann verschwunden. « »Wie das Mädchen? « »Wie das Mädchen. « »Niemand kann einfach so verschwinden. « »Doch. In die Welt der Schatten. « Noahs Blick verdunkelte sich. Er schien plötzlich mit seinen Gedanken woanders zu sein . »Weißt du, wie man Gibraltar auch nennt? « Gina schüttelte den Kopf . »Die Meerenge der letzten Hoffnung. Sie ist die Grenze zwischen der Hölle und einer angeblich besseren Welt. Wer versucht, diese Grenze zu überschreiten, weiß, was ihn erwartet. E s ist ein Spiel. Ein Spiel auf Leben und Tod. « Genau verstand Gina nicht, wovon Noah sprach. Es war meh r ein Gefühl als ihr Verstand, der sie zum Sprechen brachte . »Musst du deshalb Schuhe putzen? «
»Mein Vater ist gestorben und ich muss meiner Familie helfen . Aber ich gehe noch zur Schule. So einer wie ich findet im Zentrum von Paris keine andere Arbeit. Uns will niemand haben. «
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