Märchenmord
kein Messer? « »Nein. Es war ein Dolch, wie ihn die Nomaden in der Wüste benutzen. Er steckte im Gürtel unter seiner Jacke. Ich habe ihn gesehen. « Ginas Herz begann zu klopfen. »Warum?«, rief sie wütend. »Warum hast du das der Polizei nicht gesagt? « Zahlreiche Köpfe drehten sich zu ihr um .
Noah legte den Finger auf den Mund und flüsterte: »Das konnt e ich nicht… « »Warum nicht?« Gina versuchte, normal zu sprechen. »Du hättest mir helfen können. « Er schüttelte den Kopf und so viel begriff Gina: Er sah unendlich traurig aus . Und plötzlich verstand sie. »Du willst keine Schwierigkeiten. D u bist auch über Gibraltar nach Frankreich gekommen, stimmt’s? « »Ja. « »Und …«, sie stockte einen Moment, »gehörst du auch zu de n Papierlosen? « »Wir müssen aussteigen«, sagte Noah und stand auf. Gina blie b nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Fast wäre sie aus de m Bus gefallen, hätte Noah sie nicht aufgefangen .
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Dreizeh n
N oah sprach eine Zeit lang kein Wort. War sie denn von allen guten Geistern verlassen, einfach mit Noah mitzugehen? Hierher? Diese Papierlosen, das waren doch Gesetzlose, oder? Sie hatten keinen Pass. Sie durften nicht hier sein. Doch ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm in dieses Hochhaus zu folgen, das nichts mit denen in Frankfurt zu tun hatte. Es war ein Kasten mit Zellen, in denen Menschen hausten. Der Aufzug quietschte, als er im sechzehnten Stock hielt. Noah stieg aus, wandte sich nach links und blieb schließlich vor einer Wohnungstür stehen. Er zog seine Schuhe aus. Gina rührte sich nicht. »Zieh sie aus«, sagte er.
»Was?« »Zieh die Chucks aus.« »Nein!« Gina hatte nicht die Absicht, die Wohnung von Fremden auf Strümpfen zu betreten. »Glaub mir, wenn du keinen Ärger mit meiner Mutter willst, ziehst du sie besser aus.« Er lächelte ihr beruhigend zu und wurde wieder zu Johnny Depp. Gina löste die Schnürsenkel der Chucks und war gerade fertig, als Noah klingelte und sie Schritte hinter der Tür hörte. Nach dem wenigen, das Gina bisher über seine Mutter gehört hatte, hatte sie sich diese riesengroß vorgestellt und so füllig wie diese unglaublich dicke Concierge mit ihrem Hund. Sie war daher überrascht, als eine zierliche junge Frau die Wohnungstür öffnete. Sie trug einen roten Rock bis zu den Füßen und darüber einen langen schwarzen Pulli. Dunkle Locken umrahmten ein freundliches Gesicht und silberne Ohrringen hingen bis auf die Schultern. Noahs Mutter war jünger als ihre. Und – sie wäre die ideale Besetzung der Konstanze für die Oper. »Salam, maman.« Noah gab seiner Mutter einen Kuss. Dann sagte er etwas auf Arabisch und deutete auf Gina. Die Frau reichte ihr lächelnd die Hand und verneigte sich leicht.
»Salamu-Alaicum.«
Gina nickte stumm . »Du musst antworten«, sagte Noah. »Sprich einfach nach: Oua - Alaicum-A-Salam. «
Gina versuchte es und offenbar war es gar nicht so schlecht , denn das Gesicht von Noahs Mutter überzog ein strahlendes Lächeln. Sie machte eine weitere Geste zur Begrüßung, indem si e sanft mit der rechten Hand ihr Herz berührte . Davon könnte sich Madame Poulet eine Scheibe abschneiden . Die war nie zufrieden, wenn Gina etwas sagte. Und Französisc h war im Gegensatz zu Arabisch ein Kinderspiel .
Nun sprach Noahs Mutter auf Gina ein, fasste sie am Arm und zog sie mit sich. »So gut ist mein Arabisch nun auch wieder nicht.« Sie warf Noah einen verzweifelten Blick zu. »Ich soll dir Hausschuhe von meiner Schwester Hakima bringen!« Er ging den schmalen Flur entlang, der voller Schränke stand, und zog Filzpantoffeln aus einem von ihnen, dann wandte er sich nach rechts und sie folgte ihm in eine winzige Küche, über der ein exotischer Duft nach Gewürzen schwebte. Gina lief das Wasser im Mund zusammen. O. k., vielleicht war sie hier in der Höhle des Löwen … aber eines wusste sie: Das Essen, das auf dem Herd vor sich hin kochte, roch überirdisch gut. Wenn Gina da an ihre Küche in Frankfurt dachte, die mehr aussah wie ein Operationssaal und in der ihre Mutter mit Ach und Krach eine Fertigpizza aufwärmen konnte, dann war ihr spätestens jetzt klar: Das hier war eine andere Welt. Es war der Orient. »Salamu-Alaicum«, hörte sie jemanden heiser sagen. Erst jetzt bemerkte sie den alten dünnen Mann, der vor einem schmalen Holztisch saß und große Stücke Kandiszucker auf einem Teller zerstieß. Wie Noahs Mutter legte er seine rechte Hand zur Begrüßung aufs Herz und
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