Märchenmord
verließ er den Raum und einen Moment darauf hörte sie , wie er die Wohnungstür hinter sich zuzog . Gina warf erneut einen Blick durch das Fenster . Nichts hatte sich verändert. Der Mann stand noch immer unten . Und wieder und wieder ließ er eine Perle nach der andere n durch seine linke Hand gleiten, während die rechte ihr Handy i n die Luft hob wie eine Warnung .
*
Die Tür von Nikolajs Wohnung fiel laut krachend ins Schloss und Gina schlich die Treppe Stufe für Stufe hinunter, als ob ihr Verfolger dicht hinter ihr sei. Über dem Haus lag eine beklemmende Stille, die ihr den Atem nahm. Es war die Stille der Einsamkeit, wenn die Welt um einen wie Glas erscheint und man nichts zu berühren wagt, aus Angst, es könnte zerbrechen. Langsam schlich Gina zum Eingang, um durch die schmale Scheibe der Tür zu beobachten, wie Noah lockeren Schrittes zu seinem Stand zurückkehrte, die Bremsen des Rollstuhls löste und mit diesem die Straße überquerte, um ihn anschließend in Richtung des Mannes zu schieben. Wie schaffte er es nur, so ruhig zu wirken? Als ob er lediglich auf der Suche nach einem Kunden sei? Keinerlei Aufregung war ihm anzusehen, während Gina das reinste Nervenbündel war. Wie konnte sie das Haus unbemerkt verlassen? Noah war bei dem schwarzen Mann angekommen. Würde dieser durchschauen, dass er versuchte, ihn abzulenken? Noah streckte ihm die Hand zur Begrüßung entgegen. Mann, der war vielleicht unverfroren. Was, wenn der andere ihn zusammen mit Gina ins Haus hatte gehen sehen? Alles war schließlich möglich. Doch der Mann schien Noah gar nicht richtig wahrzunehmen. Er schüttelte lediglich genervt den Kopf, doch Noah ließ nicht locker. Er redete und redete. Seine Arme wedelten in der Luft und der Mann wurde immer ungeduldiger. Was sollte sie machen? Noah konnte nicht sehen, ob sie das Haus bereits verlassen hatte. Er konnte nicht ewig so weiterquatschen. Der schwarze Mann war gefährlich. Gina beobachtete die Straße. Sie musste irgendwie aus dem Haus kommen. Merde, jetzt schob der schwarze Mann Noah zur Seite und versuchte einen Blick auf die Tür zu werfen. Gleich war alles vorbei. Ihre Hand lag auf dem Türdrücker…Sie würde hier nicht rauskommen. Es war zu riskant. Ihr Herz klopfte laut. Sie sah, wie Noah ein Tuch herauszog, in die Knie ging und begann, die Schuhe des Mannes zu bearbeiten. Der schwarze Mann war abgelenkt. Er versuchte, Noah abzuschütteln, doch dieser ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. In diesem Moment bog ein Möbeltransporter um die Ecke und wurde langsamer. Gina konnte ihr Glück kaum fassen. Und tat sächlich … der Transporter hielt an. Er stand direkt in ihrem Blickfeld und versperrte die Sicht auf die gegenüberliegende Straßenseite. Sie konnte weder Noah noch den schwarzen Mann sehen. Jetzt. Das war ihre Chance. Nur wenige Sekunden und der Laster würde vorbei sein. Ihre Gedanken überschlugen sich…Eswar eine Art Reflex, als sie die Tür öffnete, heraussprang und nach links rannte, rannte, rannte, um hinter dem Möbeltransporter die Straße zu überqueren. Geduckt lief sie zwischen den Autos auf die andere Straßenseite. Sie hatte es geschafft. Der Laden lag vor ihr. Sie stieß die Tür auf und prallte gegen Monsieur Saïd. »Mademoiselle Gina, kann ich Ihnen helfen?« Wie wollte dieser alte Lebensmittelhändler mit dem Riesenschnurrbart, der vor ihr in seiner weißen Schürze stand, ihr helfen? »Non merci«, stotterte sie und beobachtete durch das Schaufenster, wie Noah sich langsam dem Laden näherte. Betont lässig zog er den Rollstuhl über den Bürgersteig hinter sich her und ließ ihn vor dem Laden stehen. Die Ladentür klingelte laut, als er eintrat. »Salut«, winkte er dem Lebensmittelhändler zu, bevor er Gina angrinste. »Das war knapp. Fast wäre er auf mich los. Ich bin ihm ganz schön auf die Nerven gegangen.« »Du gehst jedem auf die Nerven«, hört Gina den Lebensmittelhändler lachen, während er nach draußen ging, um einen Kunden zu bedienen. »Sonst würde ich verhungern«, rief Noah ihm nach, nahm einen Pfirsich aus dem Korb und warf ihn ihr zu. »Willst du?« »Du kannst doch nicht einfach…«
»Ach, Monsieur Saïd macht das nichts aus. « Erst jetzt wurde Gina bewusst, dass sie seit dem Frühstüc k nichts gegessen hatte . »Lass uns nach hinten gehen«, sagte Noah. »Hier kann man un s von der Straße aus sehen. « Sie gingen in das Lager, bei dem es sich um einen überdachte n Durchgang zum Hinterhof handelte. Eine schmale
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