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Märchenmord

Märchenmord

Titel: Märchenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krystyna Kuhn
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»Was meinst du damit: Einer wie du? « »Einer aus den Vorstädten, den Banlieues. « Gina konnte nicht weiterfragen, denn in diesem Moment betra t Monsieur Saïd den Raum. »Du kannst deinen Rollstuhl nicht vo r dem Laden stehen lassen, Noah. Dauernd stolpert jemand darüber und die Kunden kommen nicht an das Gemüse.« Ein ungeduldiger Ton lag in seiner Stimme, als er sich abrupt umdreht e und das Lager verließ . »Und nun? Wo soll ich jetzt hin?« Gina sprang erschrocken auf . »Wir gehen durch den Hinterhof. Auf der anderen Seite ist ei n Ausgang, der auf die Parallelstraße führt. « Noah ging voraus und Gina folgte ihm . »Wenn du willst«, sagte er, als sie in der kleinen Seitenstraß e angekommen waren, »kannst du mit mir kommen. « »Wohin? « »Zu mir nach Hause. In die Banlieue«, er grinste, »wo die Papier - losen sich am Abend verkriechen. Da bist du sicher. Keiner wir d dich dort vermuten. « Gina nickte. Sie würde mitkommen. Sie hatte keine ander e Wahl. Wohin sollte sie sonst gehen? Zu ihrer Mutter? Die vergnügte sich mit Philippe und kümmerte sich nicht darum, das s ihre Tochter von einem Mörder gejagt wurde. Außerdem wa r Gina immer noch wütend auf sie. Sollte sie sich ruhig Sorge n machen, wenn sie sie nicht in Nikolajs Wohnung antraf . Aber sie war auch neugierig . Wie sahen sie wohl aus, die Höhlen der Papierlosen? Egal , Hauptsache man konnte sich in ihnen verkriechen .
    •

Zwöl f
    M ann, die Fahrt in den Vorort Clichy-sous-Bois war ein Weg in die Ewigkeit. Von der Metro aus waren sie am Gare du Nord erst in die Bahn, anschließend in den Bus gestiegen, und je weiter sie nun das Zentrum von Paris hinter sich ließen, desto stärker überfiel Gina das Gefühl, in die Fremde zu reisen, ins Unbekannte, nur dass ihr nicht der Sinn nach Abenteuer stand. Im Gegenteil: Sie war auf der Flucht. Immer dunkelhäutiger wurden die Menschen, immer bunter gekleidet waren sie, immer weniger Französisch wurde gesprochen. Dazu war es im Bus unerträglich heiß. Die Sonne prallte auf die Scheiben und keine Klimaanlage sorgte für frische Luft. Direkt in der Sitzreihe vor ihnen saßen zwei dicke Frauen mit gelben Turbanen, die wie Riesenkürbisse aussahen. Im Takt des Busses wankten sie hin und her. Eine von den beiden hielt ein Mädchen auf dem Schoß, von dessen Kopf zahlreiche schwarze Zöpfe abstanden. Es lehnte sich über den Sitz und starrte Gina mitten ins Gesicht, wobei es gierig in ein Croissant biss. Erst jetzt wurde Gina bewusst, dass sie Hunger hatte. Bis auf den Pfirsich bei Monsieur Saïd hatte sie nichts gegessen. »Der war richtig sauer, dass wir da herumsaßen«, sagte sie zu Noah, der nachdenklich aus dem Fenster schaute. »Wer?« »Der Gemüsehändler, Monsieur Saïd.« »Ach was, der hat nie schlechte Laune. Er ist der netteste, hilfsbereiteste Mensch, den ich kenne.« »Das behauptet meine Mutter auch. Er sei die Seele der Rue Daguerre. Aber trotzdem… irgendwie war er komisch.« »Monsieur Saïd hat erzählt, dass deine Mutter vor Jahren mit diesem Tänzer zusammengewohnt hat, diesem Nikolaj. Jeder sagt, er sei schwul.« Er grinste.
    »So langsam glaube ich, dein Gemüsehändler ist auch die Zeitung der Straße.« »Stimmt!« Sie schwiegen erneut. Vor dem Fenster des Busses zog eine öde, verbaute Landschaft vorbei, die vor allem aus vertrockneten Parks, staubigen Straßen und Baustellen bestand. Die Sonne brannte durch die Scheibe so hell, dass die Luft vor Ginas Augen im grellen Licht flimmerten. Ihr Magen knurrte laut. Es war ihr peinlich, deshalb sagte sie: »Mann, habe ich Hunger.« »Keine Sorge, bei meiner Mutter wirst du garantiert satt.« Noah stemmte einen Fuß gegen den Vordersitz, über den sich jetzt das Kind mit den Zöpfen so tief zu Gina beugte, dass diese fürchtete, es würde auf ihre Seite fallen. Dabei plapperte es etwas auf Arabisch und deutete auf Gina. »Was sagt sie?«, wollte Gina wissen. »Sie möchte deine Haare anfassen.« »Meine Haare? Warum?« »Sie denkt, sie sind aus Gold.« Er grinste. Ihre Haare? Diese Strohbündel? Unwillkürlich griff Gina an ihren Kopf, als hätte sie Angst, dass ihre Haare tatsächlich zu Gold geworden waren. Nein, alles normal. Sie fühlten sich noch immer wie trockenes Stroh an. Andererseits war alles so fremd und seltsam, dass Gina sich über nichts mehr wunderte, auch nicht, wenn gleich am Himmel fliegende Teppiche erscheinen würden. »Meinetwegen«, murmelte sie und beugte sich nach vorne. Das Mädchen griff fest zu

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