Märchenmord
hörte sie Noah, der ihr über die Straße folgte. »Die Straßen von Paris sind gefährlicher als die Einsamkeit der Wüste.«
»Pascha«, erwiderte sie und dann: »Was willst du von mir? « »Dir helfen. « Was soll’s. Wenn er ihr wie ein Köter folgen wollte…ihr doc h egal .
*
Um zu verhindern, dass sich die Hitze des Tages in der Wohnung ausbreitete, hatte Ginas Mutter am Morgen die Fensterläden geschlossen gelassen. Dadurch lagen die Räume nicht nur im Halbdunkel, sondern gleichzeitig hatte sich eine dumpfe Stille ausgebreitet. Nicht einmal eine Fliege war zu hören. Lediglich das Gurren der Tauben auf dem Balkon war zu erahnen. Ein durchdringender Geruch hing über dem Flur. Probierte ihre Mutter schon wieder ein neues Parfüm? Gina verschwendete keine Zeit damit, die Schuhe auszuziehen, obwohl ihre Mutter ihr eingeschärft hatte: »Nie in Straßenschuhe über den Fußboden gehen. Das Parkett stammt noch aus dem neunzehnten Jahrhundert.« Egal, Gina beachtete die laut knarrenden Dielen unter ihren Füßen nicht. Sie rannte, so schnell sie konnte, den Flur entlang und riss die Tür zum Salon auf. Wo war das Handy? Sie hatte es hier zuletzt in der Hand gehalten. Am Fenster? Nein, dort lag es nicht. Klar, es war hinuntergefallen. Sie hatte danach gesucht, es aber im Dunkeln nicht gefunden. Gina ging in die Knie und begann, den Boden abzutasten. Noah stand daneben und beobachtete sie, wie sie unter die Kommode kroch. Vor lauter Staub musste sie niesen. Wo war das verdammte Ding?
»Was ist los?«, hörte sie Noah, doch sie antwortete nicht, den n sie hatte eine Idee. Einfach, aber genial. Genau, das war die Lösung. Sie rannte in den Flur zum Telefon und wählte die Nummer ihres Mobiltelefons . Lauschte . Nichts . Das Schweigen war unendlich still . Und dann kam ihr die Erkenntnis . Shit . Der Akku hatte endgültig den Geist aufgegeben . Also zurück ins Wohnzimmer. Das Ladegerät hatte in der Steckdose gesteckt. Da war sie sich sicher. Aber auch das war verschwunden. Hatte ihre Mutter aufgeräumt? Nikolajs Wohnun g war schließlich ein Heiligtum für sie. Vielleicht hatte sie unte r der Aura von Ludwig XVI einen Ordnungsfimmel bekommen . »Was suchst du?«, wiederholte Noah . Sie antwortete nicht . Vielleicht in der Küche ? Nein ! Das Handy konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben ! Auch im Schlafzimmer war kein Handy zu finden. Es war weg . Einfach verschwunden . »Wonach suchst du?«, hörte sie erneut Noah . »Mein Handy. Es ist weg. « »Irgendwo wird es schon sein. Wozu brauchst du es überhaupt? « »Wozu? Mann, ich habe gestern Abend gefilmt. Ich kann beweisen, dass dieser Mann existiert, dass er das Mädchen umgebracht hat.« Sie stockte. »Und er hat mich gesehen! Verstehs t du? Er hat gesehen, dass ich gefilmt habe. Gestern Abend. Deswegen ist es so wichtig, dass ich das Handy finde, dass ich di e Aufnahme der Polizei zeige. Was soll ich jetzt machen? Keine r glaubt mir.« Oh Scheiße, Gina spürte, wie ihre Stimme sich höherschraubte. Gleich würde sie sich überschlagen und dan n endgültig den Geist aufgeben . »Ich glaube dir«, hörte sie Noah von Weitem ruhig sagen . »Und was soll mir das nützen? « Noah sagte nichts . »Von welchem Planeten bist du eigentlich? Hast du nicht kapiert? Ich bin die einzige Zeugin. Der Mörder hat mich gesehen , ich werde die Nächste sein und die Polizei glaubt mir nicht. « »Warum sprichst du so gut Französisch? « »Was? « »Warum du auf einmal Französisch sprichst? « Ja, Noah hatte recht. Verwundert stellte Gina fest, dass es ih r nicht mehr schwerfiel, die richtigen Worte zu finden . »Ich bin in Paris geboren. « »Warum hast du dann gestern so getan, als ob du kein Wor t kannst? « »Ich habe nicht so getan. « »Was? Ist ein Wunder geschehen? « »Nein. Nur…« Gina stockte. »Ich wollte nie mehr Französisc h reden. « »Warum? « »Das ist eine lange Geschichte. « »Ich habe Zeit. « »Aber ich nicht. Ich brauche das Handy.« Gina deutete auf da s Fensterbrett. »Ich saß dort und habe das Mädchen gegenübe r beobachtet. Ich habe sie gefilmt. Dann habe ich ihr gewunken , aber sie hat nicht reagiert. Sie hat aus dem Fenster gesehen, al s ob sie auf jemanden wartet. « »Auf den Mann? « Gina runzelte die Stirn. »Das glaube ich nicht. « »Warum nicht? «
»Sie wirkte, als ob sie auf jemanden wartete, aber … nein . . . nicht, als ob sie Angst hatte. « Noah trat ans Fenster. Er warf nur einen kurzen Blick nach unten und trat dann
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